In unserer Studie #SmartHealthSystems analysieren wir 17 Länder zum Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Fünf Länder davon haben wir bereist – und nehmen diese genauer unter die Lupe. Wir fragen nach politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren sowie Hindernissen für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie. Die vollständigen Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie stellen wir im November 2018 vor. Bis dahin veröffentlichen wir nach und nach interessante Erkenntnisse aus den untersuchten Ländern hier bei uns im Blog. Bei unserer Länderreise nach Frankreich haben wir erfahren: Die Einführung einer übergreifenden elektronischen Patientenakte kann zwar ein langes und zähes Ringen sein, aber am Ende doch funktionieren – wenn es Institutionen gibt, die für eine koordinierte Umsetzung sorgen. Und wenn es gelingt, Ärzte und Patienten von den Vorzügen des Instruments zu überzeugen.


Stell dir vor, es gibt die elektronische Patientenakte, und keiner nutzt sie. So geschehen in Frankreich. 2004 hatte das französische Gesundheitsministerium offiziell den Start eines Dossier Médical Personel (DMP) ausgerufen: Über das Gesetz Nr. 2004-810 sollte sichergestellt werden, dass jeder Franzose über eine digitale Akte verfügt, die zu jeder Zeit und von jedem Ort aus erreichbar ist und die sämtliche medizinischen Daten des Patienten enthält.

Doch die vollmundig versprochene Akte geriet zunächst zum Ladenhüter. Bei ersten Pilotprojekten stieß sie in der Bevölkerung nur auf eine geringe Akzeptanz, und auch medizinisches Personal etwa in Kliniken machte kaum Gebrauch davon, da es häufig zu Problemen beim Datentransfer kam und die Akte nicht überall in bestehende Krankenhaussysteme integrierbar war.

Dass es sich bei den Problemen aber um wesentlich mehr als die üblichen Kinderkrankheiten eines neuen Produktes auf dem Markt handelte, sollte sich in den darauffolgenden Jahren zeigen. Im April diesen Jahres schrieb „Le Figaro“: Trotz einer halben Milliarde Euro, die seit des Starts des DMP in 2004 ausgegeben worden seien, habe sich das Dossier Médical Partagé, so wie die Patientenakte inzwischen offiziell heißt, „bisher als Fiasko erwiesen“.

Das aber könnte sich bald ändern. Aktuell machen in den Medien Schlagzeilen wie diese die Runde: „Was Sie über das Dossier Médical Partagé jetzt wissen müssen.“ Oder: „So funktioniert das Dossier Médical Partagé.“ Grund für diese Service-Berichterstattung ist die jüngste Ankündigung des Gesundheitsministeriums, ab November 2018 das DMP für alle Franzosen mit Sozialversicherungsstatus zugänglich zu machen.

Mit großer Verzögerung und nach mehr als einem Jahrzehnt also scheint das DMP endlich reif zu sein für den flächendeckenden Einsatz. Doch um diesen Punkt zu erreichen, musste die elektronische Patientenakte in Frankreich etliche Anläufe nehmen.

Misserfolg, Pause, Neustart – erneuter Fehlschlag

In den ersten Jahren nach dem Start der Akte hatte man noch versucht, die mangelnde Kompatibilität des DMP zu den bestehenden Informationssystemen zu beheben. Immer wieder wurden regionale Piloten einer neuen Version des DMP gestartet – ohne Erfolg. Und so stagnierte das DMP, bis 2008 die damalige Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot es mit einem Neustart versuchte. Aber auch dieser Relaunch des DMP schlug fehl. Weder Ärzte noch Bürger wollten sich so recht mit der elektronischen Patientenakte anfreunden. Acht Jahre nach dem Start des DMP waren bereits enorme Summen in das Projekt geflossen. Schätzungen des französischen Rechnungshofs zufolge hatte der Staat bis dahin etwa eine halbe Milliarde Euro investiert – für gerade einmal 158.000 erstellte Dossiers, von denen 89.500 eine leere Aktenhülle blieben.

Und so entschloss sich die Regierung 2012, das Thema digitale Patientenakte zunächst auf Eis zu legen. Vier Jahre lang ruhte das Projekt. Bis 2016 die zweite Generation des DMP geboren wurde –eingebettet in die frisch ausgerufene „Stratégie nationale e-health 2020“, die darauf abzielt, die Akteure des Gesundheitswesens im digitalen Wandel zu begleiten und die für sämtliche Digitalisierungsvorhaben in der Gesundheit rund zwei Milliarden Euro an Investitionen vorsieht. Erneut starteten 2017 neun Départements (Regionen) eine Pilotphase, um den Einsatz der Patientenakten im Feldversuch zu testen.

Abbildung 1: Die Entwicklung des Dossier Médical Partagé

2018: „Das DMP ist endlich einsatzbereit“

Doch jetzt, viele Regierungswechsel später, zeigt sich die Gesundheitsministerin Agnès Buzyn optimistisch, dass es diesmal die richtige Patientenakte ist. „Das DMP ist endlich einsatzbereit“, sagte sie zu Beginn des Jahres. Mehr als eine Million Dossiers seien in den neun Pilotregionen angelegt worden.

Auch wenn Frankreich viele Anläufe für die flächendeckende Einführung einer elektronischen Patientenakte gebraucht hat, und viele Medien von einer „alten Seeschlange“ sprechen, die immer wieder aus den Untiefen hervortaucht – im Gegensatz zu Deutschland hat das Land nun eine elektronische Patientenakte, die ab November jedem französischen Bürger zur Verfügung steht.

Im Vergleich zu den vorherigen Versionen des DMP haben jetzt neben Ärzten auch Bürger die Möglichkeit, ein DMP zu eröffnen. Dabei entscheiden sie, welche Daten und Dokumente von Ärzten eingesehen werden dürfen. Zudem können sie fehlerhafte Dokumente entfernen lassen und bei guter Begründung bestimmten Ärzten den Zugriff auf das DMP komplett verweigern. Auch Ärzte können ein DMP eröffnen – nicht aber ohne die Zustimmung des Patienten.

Neben den persönlichen Kontaktdaten enthält das DMP Informationen des Patienten über seine Allergien, Blutgruppe, Impfungen, Krankheiten, Befunde und aktuelle Behandlungen sowie Angaben zur Organspende. Auch Laborbefunde, Daten aus bildgebenden Untersuchungen und Operationsberichte können gespeichert werden. Um den Datenaustausch zwischen verschiedenen Gesundheitsplattformen zu gewährleisten, müssen die Anbieter verschiedener Digital-Health-Lösungen die vorgeschriebenen Interoperabilitätsstandards einhalten.

Patient und Arzt können Informationen in die Akte eintragen

Sowohl der Patient als auch die Ärzte können Informationen in das DMP eintragen. Allerdings erfolgt eine Synchronisation zwischen den lokalen Patientenakten der Krankenhäuser und Arztpraxen nicht automatisch. Es gilt daher weiterhin als fraglich, ob insbesondere Hausärzte, die ohnehin viel Zeit dafür aufwenden müssen, ihre eigenen elektronischen oder gar noch analogen Patientenakten zu führen, zusätzlich das DMP nutzen werden.

Zentraler Ansatz, um die Hemmschwelle zur Erstellung einer elektronischen Patientenakte zu senken und deren Einsatz anzukurbeln, ist die Selbstverpflichtung der Krankenkassen, die neuen DMPs auf Basis von Erstattungsdaten automatisch mit der Historie der vergangenen zwei Jahre auszustatten. Zudem sollen Ärzte finanziell gefördert werden, wenn sie ihre Praxissoftware auf eine DMP-kompatible Version aktualisieren. Auch Apotheker, die ebenfalls ein DMP eines Patienten anlegen können, erhalten einen Euro pro Akte.

Parallel zur Einführung des ersten DMP in 2004 entwickelte die französische Apothekerkammer ebenfalls eine elektronische Akte. Dieses „Dossier Pharmaceutique“ (DP) sollte eine vollständige Medikationsübersicht bieten, inklusive Arzneityp, Dauer der Verschreibung, Dosierung sowie sämtliche Impfungen. Im Gegensatz zum DMP verlief die flächendeckende Einführung des DP sehr schnell und ist bisher weitaus verbreiteter: Bereits im Jahr 2008 wurde das DP zur flächendeckenden Einführung als Opt-Out-System freigegeben. Mit der „Carte vitale“ kann ein Patient sein DP jederzeit in einer Apotheke abrufen lassen und darf allein entscheiden, wer diese Daten einsehen darf. Etwa 30.000 Apotheken und Gesundheitseinrichtungen haben sich bis 2016 an das System angeschlossen, bereits rund 32 Millionen DP-Akten existieren – mit einer Patientenzufriedenheit von 98 Prozent.

Institutionen sorgen für eine koordinierte Umsetzung und Verbreitung der digitalen Akten

Läuft es nach den Plänen der Regierung, wird sich auch das DMP endlich nach und nach im Land verbreiten und sich als übergeordnetes Dateninformationssystem etablieren. Die nationale Krankenkasse CNAM schätzt, dass bis Ende des Jahres 2,3 Millionen DMPs eröffnet sein könnten.

Um dafür zu sorgen, dass der Ausbau des DMP koordiniert und erfolgreich verläuft, hat Frankreich zwei Institutionen installiert. Seit 2009 existiert eine spezielle Agentur für Digitale Gesundheit: Die „ASIP santé“ steht unter Aufsicht des Gesundheitsministeriums und wird hauptsächlich aus Mitteln der CNAM finanziert. Zentrale Aufgabe der ASIP ist die Kontrolle der Einhaltung von Standards für die Interoperabilität und Sicherheit der Gesundheitsinformationssysteme sowie die Integration in industrielle E-Health-Angebote.

Abbildung 2: ASIP Santé (Bildnachweis: Eigene Aufnahme)

Zuvor war die ASIP auch mit der Entwicklung und Umsetzung des DMP betraut. Diese Aufgabe ging aber 2016 im Zuge der Neuauflage des DMP auf die nationale Krankenkasse CNAM über. Einer der Hauptgründe für den Wechsel: In ihren Verhandlungen mit den Ärzten kann die CNAM durch Zielerreichungsverträge die Benutzung des DMP verpflichtend einfordern. Als übergeordnetes Gremium, das die Umsetzung der nationalen E-Health-Strategie insgesamt gewährleisten soll, gründete die französische Regierung 2017 zudem das strategische Komitee für Digitale Gesundheit CSNS.

All diese Gremien dürften noch viel Arbeit damit haben, sowohl Patienten als auch die Ärzteschaft von den Vorzügen einer elektronischen Patientenakte zu überzeugen, und deren Umsetzung weiterhin so zu gestalten, dass sie zu einem effektiven Instrumentarium wird, das auch jene Kostensenkung erbringt, die man sich erhofft – etwa durch Reduzierung doppelter Untersuchungen.

Mit der Öffnung des DMP für alle Franzosen ist zumindest der erste solide Grundstein dafür gelegt. Auch die Strukturen in Frankreich bieten eine notwendige Voraussetzung dafür. Vielleicht kann man in einigen Jahren in der Zukunft tatsächlich sagen: Stell dir vor, es gibt eine elektronische Patientenakte, und alle nutzen sie.

Hinweis: Dieser Beitrag ist in Zusammenarbeit mit Dr. Cinthia Briseño entstanden. Frau Briseño unterstützt die Vorort-Recherchen zur Studie #SmartHealthSystems mit journalistischen Blog-Beiträgen zu den verschiedenen Ländern.
Die Studie führt die empirica – Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durch.

 


Verfolgen Sie die Eindrücke unserer Länderreisen zur Studie bis Ende 2018

Die vollständigen Ergebnisse unserer internationalen Vergleichsstudie stellen wir im November 2018 vor. Bis dahin veröffentlichen wir nach und nach interessante Erkenntnisse und gute Beispiele aus den untersuchten Ländern hier bei uns im Blog.

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