Der digitale Patient“ will sich in einer Debattenreihe den Möglichkeiten und Grenzen von Big Data im Gesundheitswesen konstruktiv nähern. Unser Blog fungiert dabei als Plattform, wir lassen hier Experten aus verschiedenen Bereichen zu Wort kommen. Ekkehard Mittelstaedt schrieb im vorigen Beitrag darüber, welche infrastrukturellen Anforderungen wir für den sinnvollen Einsatz von Big Data im Gesundheitswesen brauchen. Alexander Büchsenschütz und Christoph Meyer-Delpho gehen in diesem Blog-Beitrag der Frage nach, warum Big Data im Gesundheitswesen seinen Potenzialen hinterherhinkt.


Die zunehmende Digitalisierung aller Gesellschafts- und Arbeitsbereiche ergänzt die drei klassischen Produktionsfaktoren Kapital, Arbeitskraft und Rohstoffe um einen Vierten: Daten. Die Konzepte, Methoden und Technologien rund um Big Data sorgen dafür, dass diese Daten zukünftig nicht mehr nur exponentiell wachsen, sondern nutzenstiftend verwertbar gemacht werden [1]. Inmitten der vierten, der digitalen Revolution, entsteht mit Big Data folglich ein hochgradig zukunftsrelevantes Thema, dessen volkswirtschaftliches Ausmaß wir bislang nur erahnen können.

Von „Small Data“ zu Big Data: Die Rahmenbedingungen für Digitalisierung verbessern

An wohl keinem anderen Beispiel lässt sich die gesellschaftliche Relevanz von Big Data so gut darstellen wie am Gesundheitswesen. Dauerthemen rund um evidenz- versus eminenzbasierte Medizin, den Nutzen etablierter und innovativer Verfahren oder die ärztliche Heilkunst an sich werden mit Big Data zweifelsohne auf eine neue Diskussionsebene gehoben. Künftig ließen sich existierende Erfahrungswerte und neue Behandlungsverfahren mit Hilfe riesiger, weltweiter Datenbasen patientenindividuell hinterfragen, vergleichen und beweisen und auch die Werthaltigkeit von Studien, der Grundlage für Evidenz, exponentiell steigern.

Vielleicht ist bald der Erkrankungsverlauf eines Menschen bis ins kleinste Detail und unter Berücksichtigung vielzähliger, spezifischer Patientenparameter vorhersagbar. Vielleicht wird künftig der heute noch zentrale, subjektive Erfahrungswert eines Einzelnen am Versorgungsprozess beteiligten Akteurs praktisch obsolet, weil er niemals mit der empirischen Kraft von Big Data konkurrieren kann. Vielleicht wird dadurch eine vollkommen neue Art der Mensch-zu-Mensch-Betreuung am Versorgungsprozess erforderlich, um aus den beschriebenen Wegen die für den Patienten individuell beste Versorgungsentscheidung treffen zu können. Wohin auch immer die Reise geht, die heutige Patientenversorgung wird uns rückbetrachtet vermutlich vorkommen wie ein Rundgang durch das Medizinhistorische Museum.

Es fehlt die zielgerichtete Erfassung und Nutzung der Daten

Neben einer Vielzahl ethischer (Selbstbestimmung), gesellschaftlicher (Transparenz) und technischer (Datenschutz/Datensicherheit) Gefahren, die es unbedingt zu adressieren gilt, geht diesen Zukunftsszenarien allerdings eine obligatorische Anforderung voraus: Die Existenz strukturierter und verwertbarer, digitaler Daten. Und so prädestiniert das Gesundheitswesen in der Frage der gesellschaftlichen Potentiale von Big Data ist, so sehr hinkt es in genau diesem entscheidenden Punkt hinterher. Was bislang noch viel zu oft fehlt ist die zielgerichtete (welche Daten für welchen Zweck) und systematisch-digitale (Sicherstellung der Auswertbarkeit) Erfassung von Patienten- und Versorgungsdaten. An beidem krankt es dem deutschen Gesundheitssystem seit Jahren. Ein gigantischer Schatz, der sich über Jahrzehnte in Krankenhäusern, Arztpraxen, Krankenversicherungen und Abrechnungsstellen an Papier- und teilweise sogar elektronischen Dokumentationen angesammelt hat, verstaubt stattdessen vielerorts in Kellern und Archiven.

Das fast Naive an der Diskussion rund um Big Data im Gesundheitswesen ist daher, dass wir von dieser Bewegung trotz des technologischen Fortschritts der Digitalisierung so weit entfernt sind, dass wir eigentlich nicht einmal von „Small Data“ sprechen können. Um daran etwas zu ändern, müssen sich endlich die Rahmenbedingungen für Digitalisierung verbessern. Solange dies nicht passiert, wird das deutsche Gesundheitssystem weiterhin Spielwiese für Förder- und Pilotprojekte digitaler „First Mover“ bleiben, die am Anspruch von Big Data vorbeigehen.


Im nächsten Beitrag wird Prof. Jonas Schreyögg über eine bessere Nutzung von Daten für die Wissenschaft und zur Patienteninformation bloggen.

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