Von elektronischer Patientenakte bis hin zu Telemedizin: Die Digitalisierung der Gesundheitswesen in den Ländern der Europäischen Union schreitet unterschiedlich rasch voran und gleicht einem Flickenteppich. Zwar gibt es eine Vielzahl guter europäischer Initiativen im Umgang mit E-Health. Doch ein klares, gesamteuropäisches Zielbild fehlt bisher. In einem Impulspapier plädieren wir für eine integrierte E-Health-Strategie. Dieser Blogpost zeigt auf, warum und wie sich eine solche Strategie an den Bedürfnissen der Bürger orientieren sollte.


Skiurlaub in Frankreich. Die Piste war glatt. Plötzlich weggerutscht. Arm gebrochen. Einlieferung ins Krankenhaus. Behandlung vor Ort. Kein Problem: Zurück in Deutschland ersetzt die gesetzliche Krankenversicherung die angefallenen Kosten. Denn grundsätzlich haben EU-Bürger das Recht, in jedem EU-Land Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch zu nehmen, deren Kosten ihnen im Heimatland erstattet werden. Ein Beispiel für ein gelebtes Europa.

Anders sieht es aber im Bereich E-Health aus. Beispiel Corona-Tracking-Apps: Zur Nachverfolgung der Infektionsketten haben zahlreiche EU-Länder Corona-Apps entwickelt. Mehr als 20 solcher Entwicklungen gibt es EU-weit. Doch die Realisierung erfolgte lange Zeit weitgehend unabhängig voneinander. Und so konnte ein Nutzer der deutschen Corona-Tracking-App zunächst nur vor „deutschen“ Risikokontakten gewarnt werden. Erst seit Herbst ist ein Datenaustausch zwischen Corona Apps aus verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten möglich. Dabei ist gerade eine Pandemie ein Parade-Beispiel dafür, dass ein integriertes, länderübergreifendes Handeln ein weitaus größeres Potenzial für nachhaltige und effektive Lösungen bietet als Einzelgänge. Möglicherweise hätte eine von vornerein gemeinsame europäische App-Entwicklung schon weitaus mehr zur Eindämmung des bisherigen Infektionsgeschehens beitragen können.

 

Großes Potenzial

Doch ein schnelles gemeinsames Handeln, das insbesondere in einer Pandemie mit der Gefahr von exponentiellem Wachstum von Vorteil wäre, bedingt eine Voraussetzung: Es müsste bereits eine gemeinsame Strategie in der Schublade liegen. Für E-Health aber gilt bisher: Es gibt viele gute Einzelstrategien, aber klares, gesamteuropäisches Zielbild fehlt.

Dabei hätte eine integrierte Strategie großes Potenzial, in verschiedenen Bereichen positive Effekte zu erzeugen. Sie wäre ein Grundpfeiler für ein Gesundheitswesen, das die Möglichkeiten der Digitalisierung ausschöpft, um Patienten den Zugang zu qualifizierten Versorgungsangeboten zu erleichtern.

In einem Impulspapier haben wir zusammengefasst, wie sich eine integrierte europäische E-Health-Strategie an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger orientieren sollte. Oberste Prämisse: Sie sollte so ausgerichtet werden, dass die Digitalisierung europäischer Gesundheitssysteme zeitnah zu einer spürbar besseren medizinischen Versorgung der Bevölkerung führt.

E-Health „Made in Europe“ muss erlebbar sein

Doch wie kann der Einsatz von E-Health für Europas Bürger konkret erlebbar gemacht werden? Beispiel E-Rezept. Insbesondere für Menschen, die in Grenzregionen leben, wäre eine grenzüberschreitende Lösung für das E-Rezept von wesentlichem Vorteil: Sie könnten dann etwa das im Heimatland vom Hausarzt ausgestellte E-Rezept problemlos auf dem Weg zur Arbeit im angrenzenden Mitgliedstaat einlösen. In Estland und Finnland ist das beispielsweise schon jetzt möglich: Finnische Bürger können die von ihren finnischen Ärzten ausgestellten E-Rezepte auch in estnischen Apotheken einlösen, und in Finnland sind Apotheken in der Lage, E-Rezepte aus anderen EU-Ländern einzulösen.

Ein ähnliches Szenario wäre der Skiunfall im Urlaubsort: Bei einer grenzüberschreitenden Patientenkurzakte, könnten die Einsatzkräfte am Unfallort unkompliziert auf den elektronischen Notfalldatensatz des Verunfallten greifen und wüssten sofort, ob er zum Beispiel Allergien gegen Schmerzmittel hat. Auch die Nutzung von Telemedizin aus oder im EU-Ausland könnte dank solcher integrierten Ansätze reibungslos funktionieren.

Diese Ansätze müssen jedoch den regulatorischen Anforderungen zweier oder mehrerer Gesundheitssysteme genügen. Es gilt also, kreative Lösungen zu finden und diese konsequent zu fördern, um sie in die Regelversorgung einzubringen. Und: Die Regeln für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen sollten an die Fortschritte der Digitalisierung angepasst und dahingehend überprüft werden, welche digitalen Versorgungsangebote darunterfallen.

„Made in Europe“ als Vertrauenssiegel für Qualität und Sicherheit

Voraussetzung dafür aber ist, dass EU-Bürger auch darauf vertrauen können, dass E-Health „Made in Europe“ für sie einheitlich geprüft und sicher ist – und überall gleich funktioniert. Die EU-Verordnung für Medizinprodukte sowie die europäische Datenschutz-Grundverordnung bieten bereits eine solide Basis dafür. Aber beim grenzüberschreitenden Austausch von Gesundheitsdaten sowie bei den angewandten Bewertungs- und Qualitätskriterien und den Erstattungsregeln für E-Health-Anwendungen gibt es noch viel Nachbesserungsbedarf. Anders formuliert. Es herrscht europaweit noch eine sehr große Heterogenität. Und Ansätze wie das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das es Ärzten in Deutschland erlaubt, digitale Therapien zu verschreiben, gibt es EU-weit bisher sonst kaum.

Es muss aber nicht nur der regulatorische Weg für eine integrierte EU-Strategie geebnet werden, um sie für EU-Bürgern erfahrbar zu machen: Auch in Sachen Kommunikation bedarf es einer abgestimmten Vorgehensweise. Die Bürgerinnen und Bürger der EU müssen wissen: Welche gesundheitspolitischen Ziele werden mit einer solchen Strategie verfolgt? Was sind die regulatorischen Grundsätze? Wie steht es um die Qualitätsansprüche und den Datenschutz im Umgang mit E-Health?

Auf die Storyline kommt es an

Es bedarf klarer Kommunikationsformate, die sich an den Fragen und Bedürfnissen der einzelnen Zielgruppen orientiert. Letztlich sind die Bürger auch die Nutzer der digitalen Technologien. Sie müssen diese also verstehen und von deren Mehrwert überzeugt werden. Dazu muss ihnen klar und verständlich gemacht werden, welchen Nutzen und gleichzeitig auch Risiken digitale Gesundheitslösungen bringen.

Dafür ist es zum Beispiel wichtig, Bürgern verlässliche, leicht zugängliche Informationen über die Qualität von Gesundheits-Apps, die in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig angeboten werden, zur Verfügung zu stellen. Jedoch genügt die reine Erklärung nicht, dass ein Produkt etwa mit einem „Made in Europe“ Siegel unter einer strengen DSGVO den Schutz ihrer Daten gewährleistet und ein Garant für Qualität und Sicherheit ist. Die Menschen müssen vielmehr auch emotional abgeholt werden, um sich so schließlich für die Vorteile von E-Health – und die Vorteile von Europa – zu begeistern. Ob mithilfe von grenzüberschreitenden Kampagnen oder einer intensiven Kommunikation an den Kontaktpunkten vor Ort seitens von Leistungserbringern und Versicherungen, die in der Regel einen hohes Vertrauen genießen: Die Storyline von E-Health Made in Europe muss stark sein, sich direkt an die Bürger wenden – und plastisch verdeutlichen, wie sie die Gesundheit der Menschen verbessert.


Das Impulspapier der Bertelsmann Stiftung umfasst insgesamt sieben Handlungsempfehlungen für eine integrierte europäische E-Health-Strategie. Eine Auswahl daraus beleuchten wir in folgenden Blogposts:

  1. Eine integrierte europäische E-Health-Strategie muss sich an den Bedürfnissen der Bürger orientieren.
  2. Eine integrierte europäische E-Health-Strategie muss einen E-Health-Binnenmarkt schaffen.
  3. Eine integrierte europäische E-Health-Strategie muss die Governance für einen europäischen Datenraum beinhalten.