Digital Health ist seit einiger Zeit in aller Munde. Scheint es doch, dass gerade das öffentliche Gesundheitswesen bei der Digitalisierung im Vergleich zu anderen Gesellschaftsbereichen Nachholbedarf hat. An neuen Digital-Health-Anwendungen, Ideen, Angeboten und Initiativen mangelt es nicht. Dabei ist der Diskurs um die Digitalisierung des Gesundheitswesens einem Tennismatch gleich noch immer von Extremen geprägt: Die einen preisen den Fortschritt und die Digitalisierung fast schon als Allheilmittel, die anderen weisen auf mögliche Entsolidarisierungseffekte hin und befürchten den Missbrauch von höchstpersönlichen Daten. Doch was kann Digital Health im Jahre 2017 eigentlich? Eine Abwägung.


Nun ist das diskursive Match Anfang vergangenen Monats in eine neue Runde gegangen: Ein vielbeachteter Artikel stellt die Rolle des von IBM gepriesenen „Supercomputers“ Watson für die Krebstherapie infrage, welche er doch eigentlich revolutionieren sollte. Die im Artikel vorgebrachte Kritik an Watson wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen Digital Health Eingang in die Regelversorgung finden soll – nämlich nicht, ohne ihren medizinischen Nutzen unter Beweis zu stellen. Letztlich zweifelt der kritische Artikel gar nicht an, dass Watson Entscheidungen in der Krebstherapie beschleunigt, aber gemessen am revolutionären Anspruch fällt der „Supercomputer“ bislang weit hinter sein Versprechen zurück. Das Beispiel Watson steht exemplarisch für einen viel breitere Frage:

Was kann sinnvolle – patientenzentrierte, aus Versorgungssicht qualitativ hochwertige und transparente – digitale Gesundheit und was kann sie nicht?

Die Antwort auf diese Frage kann im Jahr 2017 denkbar knapp ausfallen: Digital Health ist ein Versprechen, das noch nicht eingelöst wurde. Dies liegt vor allem daran, dass die Digitalisierung ihre Wirkung nicht stromlinienförmig zur Verbesserung der medizinischen Forschung und Versorgung entfaltet. Vielmehr kann Digital Health dabei helfen, existierende Versorgungsprobleme zu lindern, indem durch sie Ressourcen effizienter und über größere Distanzen eingesetzt werden können. Sie kann jedoch auch existierende Probleme – beispielsweise soziale Unterschiede bei der Nutzung medizinischer Dienstleistungen – zementieren, ggf. sogar verstärken oder aber neuartige Probleme für Gesundheitssysteme schaffen. Um Vor- und Nachteile von Digital Health im Einzelfall zu beurteilen, braucht es Anwendungserfahrung und Zeit – etwas das der IT-Branche bislang fremd ist. Es kollidieren hier zwei Welten: “the techie attitude of move fast and break things comes up against the medical attitude of move slowly and don’t kill people”, wie ein Digital-Health-Entrepreneur im britischen Guardian zitiert wird.

Disruptive Innovation trifft auf robuste Institutionen

Der beschriebene Clash zwischen digitalen Innovationen und medizinischer Logik lässt sich auch mit Blick auf das System betrachten. Stellt man den Diskurs über digitale Gesundheit als disruptive Innovation der Entwicklung nationaler Gesundheitssysteme gegenüber, relativiert sich das Bild der „Erfolgsaussichten“ von Digital Health: So haben beispielsweise die grundlegenden Institutionen und Strukturprinzipien des deutschen Gesundheitssystems in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte mehrere schwere Krisen und politische Regimewechsel überlebt – vom Kaiserreich, über den ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, die Nazi-Herrschaft, den zweiten Weltkrieg, die Gründung der Bundesrepublik bis hin zur Wiedervereinigung. Angesichts solch institutioneller Robustheit von Gesundheitssystemen scheint Disruption deutlich erschwert.

Die Institutionen des Gesundheitswesens sollten sich Innovationen trotzem öffnen und mit jungen Innovatoren einander annähern. Sie müssen die Mittel entwickeln, um Innovationen sinnvoll in der Gesundheitsversorgung einzusetzen. Dies sollten sie tun, indem sie Hürden abbauen und den Transfer von sinnvoller Digital Health in den Versorgungsalltag fördern und konstruktiv begleiten. Die Innovatoren wiederum müssen wissen, welchen Anforderungen sie für einen solchen Transfer gerecht werden müssen und – last but not least – wie sie ihre Innovationen an die Gegebenheiten und grundlegenden Werthaltungen (PDF) der öffentlichen Gesundheitssysteme Europas anpassen.

Das richtige Maß an Strategie, Ausdauer und Geschwindigkeit

Dass in einem komplexen System wie dem Gesundheitssystem digitale Innovationen nicht ohne massive Widerstände und auch nicht ohne Fehlschläge umzusetzen sind – vor allem dann, wenn sie flächendeckend eingeführt werden sollen – zeigt das Beispiel der Telematik-Infrastruktur und ihrer Anwendungen. Die „Königsdisziplin“ ist dabei die Einführung von einrichtungsübergreifenden elektronische Patientenakten. Digitale Akten können die Kooperation, Qualität, Effizienz und Transparenz in Gesundheitssystemen eindeutig verbessern, dafür braucht es aber nicht nur einen klaren Fahrplan, sondern vor allem auch die Akztepanz und Umsetzungsbereitschaft bei den beteiligten Akteuren.

Ein Blick über die Grenze, wo man schon etwas weiter ist: Obwohl eine übergroße Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher in der staatlich geplanten Einführung der Elektronischen Gesundheitsakte – kurz ELGA – einen Fortschritt sah, wehrten sich vor allem Teile der ärztlichen Standesvertreter mit öffentlichkeitswirksamen Kampagnen massiv dagegen; Datenschutzbedenken bestimmten den Diskurs. Und selbst nach der Einführung von ELGA gibt es immer noch beachtliche Klagen über die Umsetzung. Erfahrenen Politikern und Standesvertretern sind solche Auseinandersetzungen, vor allem in fragmentierten Gesundheitssystemen wie denen Deutschlands, Österreichs oder der Schweiz bei jeglicher Art von Reformen nicht neu. Nur scheint es, dass sich auch die Vertreter der digitalen Gesundheit dafür mit entsprechend guter Strategie und langem Atem wappnen müssen.

Auch das Beispiel Großbritannien zeigt, dass es ohne eine sinnvolle strategische Passung von digitalen Lösungen mit den Gegebenheiten des Gesundheitssystems nicht funktioniert – und das trotz eines weniger fragmentierten Nationalen Gesundheitsdienstes (NHS). Die Einführung einer nationalen Elektronischen Patientenakte scheiterte in Großbritannien und allein dieses Scheitern verursachte Kosten von 10 Milliarden britischen Pfund. Ein Grund dafür war die übertriebene Hast mit der das Projekt umgesetzt werden sollte. Dass aber die Einführung einer solchen digitalen Akte ohne Zweifel die Gesundheitsversorgung verbessern kann, zeigt der jüngste Skandal: Ein Postdienstleister des NHS verlegte zwischen 2011 und 2016 über 500.000 Untersuchungsergebnisse, die niemals die behandelnden Ärzte oder die Krankenhäuser erreichten.

Der Teufel steckt im Detail

Nun ist nicht alles, was unter Digital Health zu verstehen ist, auch ein großes Infrastrukturprojekt wie die Implementierung der Elektronische Patientenakte. Von Apps bis Telemedizin gibt es zahlreiche Innovationen. Aber überall gibt es offene – konzeptionelle oder stratgische – Fragen, die systematisch angegangen werden müssen, damit Digital Health im Versorgungsalltag ankommt. Um nur einige zu nennen:

  • Mengenausweitungen als unerwünschte Nebenwirkung
    Gesundheitssysteme sind mit begrenzten Ressourcen ausgestattet, denen eine schier unbegrenzte Nachfrage nach den besten Therapien entgegensteht. Die Anzahl medizinischer Eingriffe steigt mit dem demographischen Wandel stetig. International wird daher unter dem Stichwort „value based care“ diskutiert, wie man medizinische Leistungen am besten im Sinne des Patientenwohls und der Effizienz erbringt. Vor allem geht es darum, sinnlose oder im schlimmsten Fall kontraproduktive Eingriffe und Überversorgung zu vermeiden. Genauso gilt es, die digitale Medizin möglichst rational zu gestalten. Solange eine digitale Leistung oder ein digitaler Prozess eine bislang analoge Leistung subsituiert oder sogar besser und effizienter macht, ist alles in Ordnung. Schwierig wird es, wenn neue digitale Lösungen rein additiv sind oder neue Leistungen provizieren. So zeigen etwa erste Studien für den Bereich der – grundsätzlich äußerst nutzenstiftenden – Videosprechstunden, dass diese zu nicht immer sinnvollen Mengenausweitungen beitragen können – weil sie zusätzliche Besuche in der Arztpraxis triggern oder etwa weil Ärzte (wohlmöglich aus Unsicherheit mit dem neuen Medium) nach Online-Kontakten häufiger Breitbandantibiotika verschreiben als bei einer Vor-Ort-Konsultation.
  • Fragmentierung als Hürde für die Implementierung
    Die flächendeckende Einführung von einrichtungsübergreifenden Elektronischen Patientenakten verlangt nicht nur nach einem strategischen Fahrplan, um erfolgreich zu sein. Sie muss auch mit verbindlichen Festlegungen von Standards und interoperabler Schnittstellen ausgestattet werden. In einem fragmentierten Gesundheitssystem wie dem Deutschlands besteht ansonsten die Gefahr, dass Insellösungen entstehen, die nicht miteinander kommunizieren können – mal für den ambulanten, mal für den stationären Bereich, mal für einzelne indikationsbezogene Projekte oder nur für die Versicherten bestimmter Krankenkassen. In diesem Fall wird das große Potenzial, das elektronische Patientenakten mit sich bringen, nämlich sektorenübergreifende Kommunikation zu erleichtern, genau in sein Gegenteil verkehrt – die bereits bestehende Fragmentierung des Gesundheitswesens wird digital zementiert.
  • Fehlende spezifische Ansätze für Qualitätssicherung und Nutzenbewertung
    Die Sicherheit und Qualität medizinischer Behandlungen soll durch verschiedene Maßnahmen wie Qualitätsmanagement, Public Reporting und durch andere Regularien wie die Nutzenbewertung gesichert werden. Gerade in diesem Bereich fällt die Beurteilung von Digital Health ambivalent aus: Algorithmen, digitale Überwachungssysteme, innovative digitale Behandlungsangebote können die Qualität und Sicherheit medizinischer Behandlungen ohne Frage verbessern und helfen, menschliche Fehlleistungen entweder zu korrigieren oder zu verhindern. Gleichzeitig ist systemseitig noch kein Konzept vorhanden, das die Qualitätssicherung und die Nutzenbewertung auf die Andersartigkeit von Digital Health im Vergleich zu „klassischen“ Innovationen wie Hilfsmitteln oder Medikamenten ausrichtet. Ein Transfer in den Versorgungalltag sinnvoller Digital-Health-Anwendungen wird damit erschwert. Zudem eröffnet Digital Health selbst neue Einfallstore für Fehler oder bietet Angriffsfläche für sog. Cyber-Kriminelle, wie die Probleme einiger Krankenhäuser mit Hackerangriffen belegen.
  • Risiko der Zementierung von bestehenden Problemen
    Ein klassisches Dilemma, das Gesundheitssysteme auszeichnet, ist die Informationsasymmetrie zwischen Anbietern medizinischer Dienstleistungen und Patienten, die diese Leistungen in Anspruch nehmen. Patienten können sich nicht selbst diagnostizieren (außer sie fragen Dr. Google oder einen der neuartigen Symptom-Checker) und ihnen fehlt das Wissen über die entsprechende Therapie. Um jedoch beurteilen zu können, ob ein Anbieter gute Arbeit leistet oder ob eine medinizische Leistung sinnvoll und angebracht ist, brauchen Patienten entsprechende Informationen. Verlässliche digitale Angebote wie die Weisse Liste zur Auswahl von Ärzten und Krankenhäusern oder verlässliche Gesundheitsinformationen per App gibt es bereits. Und insgesamt liegt im digitalen Zugangang zu Informationen die große Chance, die genannte Asymmetrie zugunsten des Patienten zu reduzieren. Doch auch hier kann die Digitalisierung patientenseitig bestehende Probleme zementieren: Die Nutzung von Gesundheits-Apps zum Beispiel korreliert stark mit dem sozioökonomischen Status der Bürger. Damit einher geht die Gefahr einer Digital Divide bei Menschen mit fehlender Gesundheitskompetenz. Es braucht also intergrierte Konzepte bei der Vermittlung von Gesundheitsinformationen, die auch die „Offline-Welt“ mitdenken.
  • Teils fehlende Verlässlichkeit und Nutzerfreundlichkeit
    Digital Health sollte – wenn sie die notwendige Akzeptanz finden will – für Behandler und Patienten verlässlich und anwenderfreundlich verwendbar sein. Und gerade bei komplexen Prozessen, wie denen eines Krankenhauses muss Digital Health sich als alltagstauglich erweisen: „too often technology companies ignore real-world circumstances, whether it’s the patient population or the physician’s workflow. Throwing sexy tech at the problem won’t prove useful in the day-to-day operations of a hospital, and it certainly won’t replace doctors, as some have claimed” (CNBC September 2017). Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn elektronische Patientenakten so entworfen sind, dass sie bis zu zwei Dritteln des Arbeitsalltages von Ärzten einnehmen. Digital Health ohne Anknüpfung an den klinischen Alltag scheitert. Auf Patientenseite kann das, was unter Digital Health angeboten wird, manchmal das Gegenteil von dem bewirken, was eigentlich beabsichtigt war. So zum Beispiel, wenn die eigene Meditations-App ironischerweise eher zu mehr Stress als Entspannung führt. Oder eine App, die bei Depressionen helfen soll ist entweder nutzlos oder nach zwei Tagen wieder aus dem App-Store verschwunden. Man stelle sich einmal vor, dies geschehe mit Medikamenten aus der Apotheke. Patientennutzen sieht anders aus. Und den muss Digital Health unter Beweis stellen.

Die ausgewählten Beispiele zeigen, dass Digital Health nur so gut sein kann, wie sie sich am Nutzen für Patienten orientiert und sich mit den Grundsätzen und Werten öffentlicher Gesundheitssysteme arrangiert. Digital Health wird letztlich institutionell vom Gesundheitssystem gezähmt. Dieses Argument entlässt die Verantwortlichen in Politik und Selbstverwaltung nicht, sich digitalen Innovationen zu öffnen und zu überprüfen, ob die althergebrachten Regularien im Zeitalter der Digitalisierung noch zielführend sind, bevor der Abwehrreflex gegen alles Neue greift. Ohne eine solche Öffnung – die erfreulicherweise zunehmend stattfindet – besteht die Gefahr, Patienten wortwörtlich zu verlieren, die sich medizinisch oder gar ethisch zweifelhaften Angeboten hingeben. Ganz so, wie der Reflexhammer selbst im Zeitalter der Digital Health noch seine Berechtigung hat, müssen Gesundheitssysteme und Innovatoren einen Modus Vivendi im Sinne des Patientennutzens und des Nutzens für die medizinische Versorgung finden. Dann wird Digital Health auch mehr als ein Versprechen.


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