Mit Telemedizin können Behandlungsprozesse verbessert oder Versorgungslücken geschlossen werden. In unserer im Dezember veröffentlichten Studie zu telemedizinischen Prozessinnovationen hat das Berliner IGES-Institut für uns gefragt, wie Telemedizin-Projekte in der Regelversorgung ankommen – und 15 Erfolgsfaktoren identifiziert. Einer der in der Studie untersuchten Vorreiter im Feld ist das „Telemedizinische Projekt zur integrierten Schlaganfallversorgung“ in der Region Süd-Ost-Bayern (TEMPiS), welches durch die Städtisches Klinikum München GmbH in Kooperation mit der Universität Regenburg initiiert wurde. Im Interview erklärt uns der Gesamtkoordinator des TEMPiS-Netzwerkes Dr. Gordian Hubert, was das Projekt leistet, welche Hürden es zu überwinden galt und was wir in Deutschland aus seiner Sicht brauchen, damit Telemedizin in der Fläche ankommt.


Was war der Ausgangspunkt bzw. was ist der Kerngedanke hinter dem TEMPiS-Projekt?

Gordian HubertHubert: „Der Ausgangspunkt war, dass es im Jahr 2002 zwar bereits evidenzbasierte Therapien für den Schlaganfall gab: Erstens die Behandlung auf einer sogenannten ‚Stroke Unit‘ und zweitens die Thrombolysetherapie (Gerinnselauflösung). Diese Therapien wurden aber nicht flächendeckend durchgeführt. Im ländlichen Süd-Ost-Bayern, einem Gebiet mit über zwei Millionen Einwohnern, gab es keine einzige Klinik, die diese Therapieformen durchführen konnte. Lediglich in den Städten München, Regensburg und Passau fanden sich spezialisierte Abteilungen. Diese Unterschiede in ländlichen und städtischen Gebieten wollten wir beseitigen. Da aber nicht genügend Schlaganfallexperten zur Verfügung standen, setzten wir Telemedizin ein. Das Team des TEMPiS-Netzwerks schulte dann die Kliniken im ländlichen Raum in der Schlaganfallbehandlung, beriet im Aufbau von Stroke Units, erstellte standardisierte Behandlungsempfehlungen, begann strukturiert Daten zu erheben und baute ein Telemedizinsystem auf, das sowohl Videokonferenzen als auch die Übertragung von Gehirnschnittbildern erlaubte. Viele der Schlaganfallpatienten, die in eine der ländlichen Kliniken kommen, werden nun von einem Experten aus München oder Regensburg telemedizinisch untersucht, daraufhin erfolgt eine spezialisierte Beratung der örtlichen Teams bezüglich der Akuttherapie des Schlaganfalls. Hierdurch konnten wir die medizinische Kompetenz in den ländlichen Regionen bei der Schlaganfallbehandlung stärken.“

Wie profitieren Patienten von Ihrem Ansatz?

Hubert: „Die Patienten können durch Telemedizin 24 Stunden am Tag die Einschätzung und Therapieempfehlung eines Schlaganfall-Experten erhalten. Weil die Akuttherapie eines Schlaganfalls sehr rasch begonnen werden muss, dürfen Verzögerungen durch langwierige Verlegungen in ein entferntes Zentrum nicht auftreten. Außerdem profitieren die Patienten auch gleich von den gut geschulten Teams (Pflege, Therapeuten, Ärzte, etc.) auf den Stationen der angeschlossenen Krankenhäuser vor Ort.“

Telemedizin: Politik und Kostenträger brauchen Mut für neuartige Versorgungskonzepte

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten drei Erfolgsfaktoren für TEMPiS?

Hubert: „TEMPiS wurde von Anfang an sehr durch die Politik und die Kostenträger unterstützt. Diese Unterstützung und die klar festgelegte Finanzierung des Netzwerks ist einer der großen Erfolgsfaktoren des Projekts. Außerdem haben wir bereits in der Anfangsphase eine sehr detaillierte Evaluation des Netzwerks durchgeführt und konnte durch die positiven Ergebnisse die dauerhafte Weiterführung rechtfertigen. Ein weiterer großer Erfolgsfaktor war natürlich auch das große Engagement aller – der Zentrumsmitarbeiter wie auch der Beteiligten in den Kooperationskliniken. Und dieses Engagement hält bis heute noch an, so wird das Netzwerk gemeinsam gestaltet und weiterentwickelt.“

Was sind die größten Hürden, mit der Sie bei der Etablierung Ihres Projektes zu kämpfen hatten?

Hubert: „Die Etablierung erfolgte durch meine Vorgänger, so dass meine Antworten nur aus zweiter Hand sind. Aber wie bei jeder neuartigen Versorgungsform galt es anfangs vor allem, Skeptiker zu überzeugen, sowohl im medizinischen Sinne, als auch im organisatorischen und finanziellen. Die positiven Ergebnisse der Evaluation haben uns hierbei sehr unterstützt.“

Was muss passieren, damit mehr sinnvolle telemedizinische Anwendungen in der Fläche der Versorgungslandschaft in Deutschland ankommen?

Hubert: „Über allem steht natürlich ein gutes Konzept. Es muss eine klug überlegte neue Versorgungsform sein, die wichtige Lücken schließen kann. Außerdem muss die Finanzierung ausreichend gewährleistet sein – vor allem ist es erforderlich, den Arbeitsaufwand gut zu kalkulieren. Aber gerade bei neuartigen Projekten ist eine solche Kalkulation nicht immer ganz einfach. Ein unterfinanziertes Projekt kann vielleicht noch durch das Engagement der Protagonisten eine Weile aufrechterhalten werden, aber in die Regelversorgung wird es so nur selten kommen. Weiterhin sollten neue Versorgungskonzepte immer wissenschaftlich evaluiert werden. Nur dann weiß man sicher, ob es sich um eine medizinisch ‚sinnvolle‘ Anwendung handelt und kann entsprechend auch eine Finanzierung auf lange Sicht rechtfertigen. Politik, Behörden und Kostenträger müssen außerdem die Bereitschaft zeigen, neuartige Versorgungskonzepte mit zu unterstützen und den Mut haben, bei positiven Evaluationsergebnissen diese Konzepte auch in die Regelversorgung zu übernehmen.


Dr. Gordian Hubert studierte Humanmedizin in Berlin, Lausanne und München. Seine Weiterbildung absolvierte er in München und Dunedin, Neuseeland. Seit 2010 arbeitet er im Bereich der Telemedizin und ist seit 2014 Gesamtkoordinator des TEMPiS-Netzwerkes. Seine Interessensschwerpunkte sind vaskuläre Neurologie und Telemedizin. Er ist Vorsitzender des TeleStroke Committee der Europäischen Schlaganfallgesellschaft.


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