In welchen Bereichen des Gesundheitswesens sind weltweit agierende Technologie-Konzerne aktiv? Wie kann der Einsatz ihrer Produkte und Dienstleistungen die Medizin verbessern?  Und welche Herausforderungen entstehen durch die Aktivitäten dieser Tech-Giganten? Unter Leitung der Ethikerin Prof. Christiane Woopen hat ihr Forschungsteam in unserem Auftrag eine breit angelegte Studie zu den Tech-Giganten im Gesundheitswesen erstellt. Im Interview erklärt Christiane Woopen, welche Auswirkungen die digitale Transformation aus ihrer Sicht hat. Mit Blick auf die verschiedenen Chancen und Risiken fordert die Ethikerin eine Positionierung der Politik und eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, welche Rolle die Tech-Giganten im Gesundheitssystem in Zukunft spielen sollen. 


In Ihrer Analyse haben Sie und Ihr Team Produkte und Services der Tech-Giganten analysiert. Was war für Sie das eindrücklichste Ergebnis?

Woopen: „Besonders eindrücklich finde ich die Vielfalt der Aktivitäten. Die Tech-Giganten entwickeln ganz unterschiedliche gesundheitsrelevante Produkte und Anwendungen für alle Patientinnen und Patienten als auch Nutzerinnen und Nutzer, die etwas für ihre Gesundheit tun möchten, und auch für Personal in Gesundheitsberufen. Sie engagieren sich im Versorgungssystem und im Gesundheitsmarkt mit einem breiten Spektrum an Angeboten, und nicht zuletzt sind sie in der Forschung und Entwicklung sehr aktiv. Sie haben viele Kooperationen im öffentlichen und privatwirtschaftlichen Bereich. Letztlich sind sie auf die ein oder andere Weise fast überall.“

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen, die sich aus den Aktivitäten der Tech-Giganten für das Gesundheitswesen ergeben?

Woopen: „Die größte Herausforderung liegt für mich darin, die Kompetenzen der Tech-Giganten für die Weiterentwicklung einer digitalen Gesundheitsversorgung zu nutzen und gleichzeitig die ethischen Standards, die etwa die Datenethikkommission sowie der Deutsche und der Europäische Ethikrat ausgearbeitet haben, zu wahren. Dazu gehören etwa die Würde des Menschen, seine Freiheit und Selbstbestimmung und Privatheit, Standards der Nachhaltigkeit und die Vermeidung von Diskriminierungen, wie sie insbesondere bei Anwendungen der sogenannten künstlichen Intelligenz entstehen können. Zudem haben Tech-Giganten durch ihre Finanzstärke und ihre technologischen Kompetenzen sowie unvorstellbare Datenmengen eine große Macht und prägen schon heute unseren Lebensstil ganz erheblich. Diese Macht sollte meines Erachtens begrenzt werden, etwa durch Modelle des Daten-Teilens, und allzu weit reichende Abhängigkeiten sollten vermieden werden.“

Und die größten Chancen?

Woopen: „Eine Chance sehe ich zunächst in einer Umstrukturierung des Gesundheitswesens, so dass die Patientin und der Patient wirklich im Zentrum stehen. Durch den einfachen Zugang sowohl zu qualitätsgesicherten und verständlichen Gesundheitsinformationen als auch zu den eigenen Gesundheitsdaten fühlen sich Patientinnen und Patienten nicht so hilflos und ausgeliefert. Sie könnten sich ihr eigenes Gesundheitsnetz zusammenstellen. Für das Personal im Gesundheitswesen stelle ich mir deutlich entschlackte und effizientere Prozesse sowie eine digital unterstützte Evidenzbasierung ihrer Tätigkeiten vor, und letztlich wäre ein Lernendes Gesundheitssystem ein großer Fortschritt. Die Daten aus der alltäglichen Versorgung würden wissenschaftlich ausgewertet und die Ergebnisse gehen in einem Kreislauf wieder in die Versorgung ein, z.B. über algorithmische Systeme, die die klinische Entscheidung unterstützen. Das würde auch die Weiterentwicklung einer individuell zugeschnittenen Präzisionsmedizin unterstützen, die für manche die größte Chance einer digitalen Gesundheitsversorgung darstellt.“

Womit sollte sich die Gesundheitspolitik in den kommenden Jahren konkret beschäftigen, wenn es um die Tech-Giganten geht?

Woopen: „Die Gesundheitspolitik sollte sich aus meiner Sicht politisch klar zur Rolle und zur Einbindung der Tech-Giganten im Gesundheitssystem positionieren und dazu auch eine gesellschaftspolitische Debatte anstoßen. Auf deutscher und auf europäischer Ebene gibt es ja schon etliche Initiativen, um die Potenziale der Digitalisierung für Gesundheit und Wirtschaft zu nutzen, und gleichzeitig Risiken zu minimieren. Letztlich erfolgt das aber immer noch zu zaghaft und verliert sich zu oft im Klein-Klein. Wenn man das Potenzial der Daten wirklich nutzen will, bräuchte es zum Schutz derer, von denen die Daten stammen, noch gesetzlicher Absicherungen etwa durch ein Verwertungsverbot bei Versicherungen und Arbeitgebern. Eine kraftvolle Innovationspolitik würde auch Initiativen jenseits von Mono- und Oligopolen fördern. Und nicht zuletzt muss die digitale Gesundheitskompetenz breit gefördert werden.“

Die digitale Transformation des Gesundheitswesens hat auch Auswirkungen für jeden Einzelnen und jede Einzelne von uns. Womit sollten wir uns als Gesellschaft am dringendsten auseinandersetzen?

Woopen: „Mich beschäftigt immer wieder die große Macht der Tech-Giganten. Sie machen unser Leben in vielen Hinsichten einfacher und bequemer, und sie können auch wertvolle Beiträge zur Gesundheit leisten. Gleichzeitig aber prägen sie unser alltägliches Leben enorm und haben faktisch eine sehr große Deutungsmacht über das, was wichtig, schön und erstrebenswert ist. Wenn durch ihre Produkte und Services insbesondere die Prävention von Erkrankungen gestärkt werden kann, wäre das ein großer Fortschritt. Andererseits wäre der Preis einer fast lückenlosen Überwachung und ständigen Datenfixiertheit meiner Ansicht nach zu hoch. Gesundheit ist wichtig, sie ist aber nicht das höchste Gut. Ein erfülltes Leben zu führen ist weit mehr als man mit Daten wiedergeben oder mit Algorithmen errechnen könnte.“

 


Prof. Dr. med. Christiane Woopen ist Heinrich-Hertz-Professorin für Life Ethics im transdisziplinären Forschungsbereich „Individuen, Institutionen und Gesellschaften“ der Universität Bonn und Direktorin des neu gegründeten Center for Life Ethics. Zuvor war sie Geschäftsführende Direktorin des Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres) der Universität zu Köln.