In der „Roadmap Digitale Gesundheit“ unseres Projekts empfehlen wir, digitale Kommunikationslogiken in die medizinische Aus- und Weiterbildung zu integrieren. Denn Ärzte müssen sich zukünftig auf neue, digitale Kommunikationslogiken mit Patienten einstellen, die abseits der medizinischen Versorgung schon heute zum Standard gehören. Im Kontext dieser Handlungsempfehlung sind wir in Austausch mit der Universität Witten/Herdecke getreten, die aktuell an der Neuauflage ihres medizinischen Curriculums arbeitet. In einem Gastbeitrag berichten der Wittener Medizinstudent Emanuele Hillebrand, Wissenschaftler Philip Böhme und der Lehrstuhlinhaber für Didaktik und Bildungsforschung im Gesundheitswesen, Jan Ehlers, wie das Medizinstudium an ihrer Universität schon heute digital gedacht wird.


Die Digitalisierung wird die Medizin verändern

Der normale Standard 2018: Fast in jedem Haushalt arbeiten und leben die Menschen mit Smartphones oder Computern. Sie kaufen online ein, streamen Filme, lesen Nachrichten auf ihren Tablets und nutzen soziale Netzwerke sowie Messenger-Apps, um sich innerhalb von Sekunden mit Menschen rund um den Globus zu vernetzen. Auch im Gesundheitssektor hat die Informationstechnologie bereits nachhaltige Veränderungen hervorgebracht. Zwar verläuft die Entwicklung zur Digitalisierung durch die hohen Qualitätsanforderungen und Regulierung langsamer als in anderen Bereichen, dennoch ist auch in der Medizin der Beginn eines tiefgreifenden Wandels zu spüren. So nutzen Ärzte bereits heute täglich moderne elektronische Technologien und IT-Systeme. Sie ermöglichen die Organisation von Krankenhäusern, die Verwaltung und Dokumentation von Patientendaten, steigern diagnostischen Möglichkeiten, bieten Alternativen zu invasiven operativen Eingriffen und geben Patienten in einigen Ländern sogar die Chance, den Arztbesuch von zu Hause per Videokonferenz zu erledigen.

Ein Blick auf den Stand der aktuellen Forschung und neueste klinische Studien verrät, welche entscheidende Rolle die Informationstechnologie im medizinischen Alltag spielen wird:

So beschäftigt sich zum Beispiel ein aktuelles Forschungsgebiet mit neuronalen Interfaces, sogenannte Brain-Computer-Interfaces. Basis dafür ist die Kopplung von Nervenzellen im Gehirn mit einer Recheneinheit oder einem Computer. Diese Schnittstellen werden dann dazu genutzt, Recheneinheiten zu steuern oder anzusprechen, wodurch sich Computerprogramme oder Prothesen durch die normale Gehirnaktivität steuern lassen können.

Eine klinische Studie aus Georgia nutzt eine solche Technologie zur Therapie von Patienten mit refraktärer fokaler Epilepsie. Den Erkrankten wird ein sogenanntes „closed-loop Responsive Neurostimulation System (RNS)“ implantiert. Dieses besteht aus einem Puls Generator, ein bis zwei subduralen Elektroden sowie einer Programmiereinheit. Der Puls Generator misst und analysiert durchgehend das „Elektrocorticogramm (ECoG)“ des Patienten. Sobald im ECoG Auffälligkeiten vermerkt werden, sendet der Puls Generator automatisch ein elektrisches Signal aus, um einem epileptischen Anfall entgegenzuwirken. Die Parameter, die die Gefahr eines potentiellen Anfalls bestimmen, werden über die Programmiereinheit vom Arzt festgelegt. Bei sieben von acht Patienten konnte durch den Einsatz dieser Technologie die Frequenz epileptischer Anfälle um mindestens 45 Prozent verringert werden, in zwei Fällen wurde sogar ein Rückgang um 75 Prozent erreicht.

Innovationen erfordern viel technisches Verständnis bei Ärzten

Diese wahrscheinlich in naher Zukunft einsetzbaren Methoden erfordern ein hohes Maß an technischem Verständnis, das mitgebracht werden muss, damit eine erfolgreiche Therapie gewährleistet werden kann.  Von Ärzten der Zukunft wird daher erwartet, dass sie in der Lage sind, die Grundfunktionalität und den Aufbau solcher Technologien verstehen und individuell mit dem technischen Personal besprechen zu können. Nur dann kann nämlich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit gewährleistet werden, die für den Patienten den entsprechenden Nutzen bringt.

Das Leistungsvermögen von moderner IT-Technologie wächst exponentiell, unzählige Studien in der medizinischen Forschung beschäftigen sich damit und zeigen auf, dass die Medizin, wie wir sie heute kennen, noch am Anfang ihrer technischen Möglichkeiten steht. Es lassen sich in den nächsten Jahren immer mehr neue Technologien erwarten – mit großem Potential für eine verbesserte Patientenversorgung.

Eine High-Tech-Versorgung ist aber immer nur so gut, wie der Arzt, der sie einzusetzen weiß. Er muss daher das Know-how dafür besitzen. Dies meint nicht nur ein grundlegendes Verständnis, sondern auch die Kompetenz, die neuen Methoden kritisch hinterfragen zu können. Er muss Vorteile und Risiken kennen und einschätzen können, um weiterhin patientengerecht zu arbeiten.

Diese Veränderungen implizieren auch ein Umdenken der Universitäten. Heutige Medizinstudierende sollten die Möglichkeit bekommen, sich ein technisches Grundverständnis bereits von Anfang an in der Ausbildung anzueignen und die modernen IT-Systeme sowie weitere technologische Neuerungen kritisch und konstruktiv für den Einsatz im medizinischen Alltag zu beurteilen. Nur ein solches komplexeres Verständnis ermöglicht es den Studierenden und späteren Ärzten, das neue Know-how in einer Art und Weise zu verwenden, dass es den Patienten auch wirklich zugutekommt.

Umdenken im Medizinstudium

Diesem Gedanken verschreiben wir uns an der Universität Witten/Herdecke schon heute. Es erscheint uns unumgänglich, dass sich das Gesundheitssystem darauf einstellt und Medizinstudierende sich bereits im Studium auf ihre künftige digitale und hoch technisierte Arbeitsumgebung vorbereiten. Die Umsetzung verfolgen wir im Wesentlichen mit drei konkreten Zielen:

  • Ärzte/Medizinstudierende müssen sich im Zuge der Digitalisierung in einem multiprofessionellen Behandlungsteam zurechtfinden, während auch Patienten immer besseren Zugang zu medizinischen Informationen haben.
  • Ärzte/Medizinstudierende sollen digitale Medien wie die Telemedizin als „Channel“ begreifen, welcher die Arzt-Patienten-Beziehung fördert und nicht ersetzt. Das Medium muss an den Patienten, nicht der Patient an das Medium angepasst werden. Datensicherheit und Vertrauen sind stets zu garantieren.
  • Ärzte/Medizinstudierende sollen verstehen, dass sich durch die Digitalisierung (inkl. Vermessung von Gesundheit) der Fokus von der Heilung von Krankheiten zunehmend auf Erhaltung von Gesundheit, Prävention und Kostenvermeidung verschieben wird.

Wir haben hierzu seit Wintersemester 2016/2017 ein einen Kurs in unserem „Studium fundamentale“ installiert, welcher multiprofessionell ausgelegt ist und auch Studierenden aus anderen Studiengängen offensteht. Wir verfolgen das Ziel, die Studiereden für das Thema zu sensibilisieren und den reflektierten Umgang mit den digitalen Medien zu fördern. Die Themen sind breit aufgestellt: von Big Data über Datensicherheit bis hin zur Start-up-Gründung. Eine Besonderheit des Kurses ist, dass nicht nur über Technologien diskutiert wird, sondern diese auch so eingesetzt werden, dass an dem Kurs nicht nur in Präsenz sondern auch live online via Adobe Connect teilgenommen werden kann.

Zu Beginn waren wir skeptisch, ob wir genug interessierte Studierende finden würden, aber die Praxis zeigte uns schnell das Gegenteil. Unser Kurs wurde sehr gut aufgenommen. Wurde er im ersten Semester nur von 15 Studierenden belegt, fanden sich im vergangenen Semester bereits 63 und in diesem sogar 183 Studierende ein. Wir führten nach jedem Kurs eine Umfrage durch, welche die Begeisterung für das Thema zeigte. Unser Fazit nach gut einem Jahr Erfahrung: Viele Curricula stehen der Digitalisierung der Medizin zu passiv gegenüber. In unseren Seminaren konnten wir das Thema sowohl inhaltlich als auch technisch-methodisch so erfolgreich angehen, dass das Angebot im nächsten Semester auch an einer weiteren Hochschule angeboten wird.

Ausblick: Medizinstudium 2020

Doch mit der vom Bildungsministerium ausgerufenen Initiative zur Erneuerung des Medizinstudiums werden wir noch einen Schritt weiter gehen. Die größte Herausforderung der Zukunft für junge Ärzte sehen wir in der longitudinalen Betreuung von chronisch kranken Patienten. Wir möchten uns mit einem neuen Modellstudiengang genau diesem Schwerpunkt widmen und dabei ganzheitlich digitale Medien einbinden. Unsere Studierenden werden mit Beginn des ersten Semesters über eine Lösung, die noch mit Partnern zu entwickeln ist, direkt mit einer über den Verlauf des Medizinstudiums steigenden Anzahl von chronisch kranken Patienten konfrontiert werden, deren medizinische Betreuung übernehmen und diese bis zum Ende ihres Studiums begleiten.

Über Activity-Tracker und andere die Adhärenz steigernde Lösungen sollen die Studierenden dann direkt Feedback erhalten, um den Patienten coachen zu können. Da ein solches Verhältnis ein großes Vertrauen verlangt, sind auch gemeinsame Besuche bei einem Hausarzt geplant, der die Supervision übernehmen soll. Wir hoffen, dem Patienten so nicht nur eine direktere Betreuung ermöglichen zu können, sondern auch einen signifikanten Einfluss auf den Verlauf seiner Erkrankung zu haben. Wir werden dies nutzen, um zum einen an neuen Methoden der digitalen Arzt-Patienten-Kommunikation zu forschen und zum anderen die Medizinstudierenden im Umgang mit den neuen Medien so zu schulen, dass sie sich sicher fühlen, wenn sie später als Ärzte im Beruf mit diesen konfrontiert werden. Zusätzlich werden die Studierenden mit einem Track „Digitale Medizin“ in diesem Bereich einen Schwerpunkt bilden können.

Wir finden, für Medizinische Fakultäten ist an der Zeit, sich für digitale Lösungen zu öffnen und Curricula innovativ zu gestalten.


Sie möchten keinen Beitrag verpassen?
Abonnieren Sie hier unseren Newsletter: