Die Einführung einrichtungsübergreifender Elektronischer Patientenakten (eEPA) braucht einen klaren Fahrplan und mehr politische Steuerung. Außerdem müssen die Akten von Beginn an als Behandlungsmanagement-Plattformen gedacht werden, an denen der Patient gleichberechtigt partizipieren kann. Zu diesen beiden Kernergebnissen kam Prof. Peter Haas, Medizininformatiker an der Fachhochschule Dortmund, vor einigen Monaten in einer von uns beauftragten Expertise zu eEPA. Nun unterstreicht er diese Erkenntnisse in einem Plädoyer für die einrichtungsübergreifenden Akten.


zuerst erschienen im Fachmagazin KU Gesundheitsmanagement 10/2017

Jeder, der über Bagatellerkrankungen hinaus im Gesundheitssystem von mehreren Institutionen gleichzeitig versorgt wird, bekommt es zu spüren: Die Versorgung ist fragmentiert und die Abstimmung zwischen den Einrichtungen gering. Es werden in konventioneller Weise Briefe ausgetauscht, manchmal nicht einmal zeitnah. Wirklich einen Überblick über seine Situation hat nur der Patient selbst – sofern er das überhaupt umsetzen kann. Und das in einer Informationsgesellschaft!

Wir können zwar heute Weltreisen mithilfe des Internets planen aber wenn ein alter Mensch nach einem Sturz im Park in eine Notaufnahme eingeliefert wird, weiß der diensthabende Arzt nichts von ihm und bekommt nur schwerlich etwas heraus. Der Arzt sieht beispielsweise eine Narbe und dann?

Arzt: „Herr Meier, sind Sie schon einmal operiert worden?“
Herr Meier: „Ja, ja.“
Arzt: „Wo denn?“
Herr Meier: „In Lünen.“
Arzt: „Was war denn der Grund?“
Patient: „Der Bauch…“

Diese vor einigen Jahren miterlebte Situation, in der eine junge Ärztin händeringend versuchte in einem längeren Dialog aus einem älteren Mann etwas herauszubringen, wäre schon fast etwas für eine Comedy-Sendung gewesen, wenn es nicht so ernst gewesen wäre und täglich vielzählig so abläuft. Es hat mich nicht nur nachdenklich gestimmt: Aus vielerlei vorgeschobenen Gründen (z.B. Datenschutz, berufspolitische Interessen, politisches Desinteresse) wird eine optimale vernetzte IT-gestützte Versorgung seit über zehn Jahren in Deutschland blockiert beziehungsweise zumindest verzögert. Jeden Tag kommen dadurch Menschen unnötig zu Schaden.

Um den Faden von zuvor wiederaufzunehmen: Viele Betroffene können nicht die eigene „Akte im Kopf“ haben, also bei (Zwischen-)Anamnesen ausreichend Auskunft über alle wichtigen Aspekte geben. Fragen Sie einmal nur auf der Straße die Menschen, welche Medikamente sie nehmen. Und gerade für jene Betroffenen, die unserer Fürsorge besonders bedürfen, trifft diese Nichtauskunftsfähigkeit besonders zu: Demenzpatienten, multimorbide geriatrische Patienten, Krebspatienten, schwer chronisch Kranke.

Der Anspruch einer optimalen Versorgung – einer multiinstitutionellen und multiprofessionellen „continuity of care“ – kann in einem fraktionierten System nur wirklich eingelöst werden, wenn das gesamte Behandlungsteam eines Patienten zeitnah und sachgerecht in Erfahrung bringen kann: Was war, was ist, was soll sein? Und ja, auch der Patient mit seiner Dokumentation sollte Teil des Teams werden, sofern er das will und kann. Für viele chronisch Kranke ist das heute ein Thema. Eine Teledokumentation in Form einer einrichtungsübergreifenden elektronischen Patientenakte (eEPA) ist hier das Mittel der Wahl, um zu einer patientenzentrierten Sektor übergreifenden integrierten Versorgung zu gelangen.

Die Informatik hat heute alle Methoden und Werkzeuge zur Hand, um dafür sichere und sachgerechte Lösungen umzusetzen. Nicht zu verhandeln ist dabei die Berücksichtigung der informationellen Selbstbestimmung des Patienten. Für dedizierte Zwecke sind ja inzwischen auch Umsetzungen erfolgt und werden in der Fläche betrieben – man denke an die Palliativnetze, einige Ärztenetze, Gesundheitsakten der Kassen etc.. Was aber fehlt, sind eine gesamtheitliche nationale Strategie und ein ökonomischer, rechtlicher, organisatorischer und technischer Rahmen, damit jeder seinen Anspruch auf den Einsatz einer eEPA für seine optimale Versorgung realisieren kann und die Heilberufe mit wenig Aufwand und nutzbringend damit arbeiten können. Alles andere führt zu vielen informatischen Inseln, deren Zusammenspiel nicht funktioniert und die auch nicht einfach und gleichartig mit Informationssystemen der Gesundheitseinrichtungen interoperabel gemacht werden können.

Zum Schluss sei gesagt: Wir müssen vor allen Dingen die Chancen in den Blick nehmen. Es geht ja nicht darum, zwanghaft eine Technologie einzusetzen, sondern das Potenzial dieser zu schöpfen – zum Beispiel für eine besser abgestimmte Versorgung, mehr Patientensicherheit und Versorgungseffektivität. Für mich ist es eine ethische Verpflichtung, solche Instrumente der Teledokumentation einzusetzen. Und es geht dabei nicht nur um Effektivität und Qualität, sondern auch um eine bessere Patientenpartizipation und Patientensouveränität.

Wir haben daher als Gesellschaft – ich wiederhole das hier – eine ethische Verpflichtung, diese Dinge sachgerecht und sicher umzusetzen. Denn wir kaufen immer teurere Medizintechnik und können in jedes Molekül des Patienten hineinschauen oder sein Genom analysieren. Aber über über den Menschen in seiner Gesamtheit bezogen auf seinen Gesundheitszustand und die damit verbundenen Behandlungen weiß der einzelne Arzt immer weniger – das darf nicht wahr sein und auch nicht so bleiben!


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