Was muss passieren, damit nutzenstiftende einrichtungsübergreifende Elektronische Patientenakten in Deutschland gelebte Wirklichkeit werden? Damit setzen wir uns im Projekt „Der digitale Patient“ und hier im Blog seit einiger Zeit auseinander. Der Publizist Albrecht Kloepfer, seit vielen Jahren Beobachter der Gesundheitspolitik, fragt in diesem Gastbeitrag, ob wir in der nächsten Legislaturperiode zu substanziellen Fortschritten bei der Akte kommen. Und er beschreibt, warum dies nötig ist. Anhand des Beispiels einer Patientin, anhand des drohenden Flickenteppichs von nicht kompatiblen Anwendungen und vor dem Hintergrund der aktuellen Ankündigung von Apple, eine Elektronische Gesundheitsakte auf dem iPhone einzuführen. Der Beitrag ist ursprünglich im gesundheitspolitischen Nachrichtenüberblick „iX-Highlights“ erschienen.


Man reibt sich die Augen: Über 600 Millionen Euro hat die Gematik bislang verschlungen. Sind die Ergebnisse den Preis wert? Und warum denke ich gerade an den Berliner Flughafen? Weil hier wie da „Irgendetwas“ in die Welt gestellt wurde, aber für die Leute, die es am Ende gezahlt haben, bislang nichts Brauchbares dabei herausgekommen ist. Da hält sich der Spaß einfach in Grenzen.

Dabei ist an Bedarf und guten Ideen wahrlich kein Mangel. Beim BMC-Kongress schilderte jedenfalls eine Morbus-Crohn-Patientin ihre inzwischen 16-jährige Leidensgeschichte, bei der sich das versammelte Auditorium schlicht nur noch wundern konnte, wie es der junge Dame gelungen ist, sich ihren Lebensmut, ihren Optimismus und ihre positive Grundeinstellung zu bewahren. Wieder und wieder die gleiche Geschichte vortragen zu müssen, wieder und wieder die Blutgruppe(!) bestimmen zu lassen, wieder und wieder deutlich mehr zu wissen (über sich und über ihre Erkrankung) als die meisten behandelnden Ärzte, kann eigentlich bei Krankheiten, die eine tatsächlich massive Einschränkung der Lebensqualität bedeuten, nur zu Frustration und Ratlosigkeit führen. Man steht – wie beim Flughafen – tatsächlich schulterzuckend vor dem Phänomen und fragt sich 1., was da eigentlich schiefgegangen ist und wie wir 2. aus diesem Schlamassel wieder herauskommen sollen.

Zwischenzeitlich – so der Hoffnungsschimmer – machen sich „an der Basis“ diverse Versorgungsakteure auf den Weg, die nicht mehr gewillt sind, dem Treiben untätig zuzusehen. Tapfer und verdienstvoll, aber die Gefahr ist groß, dass auf dieser Basis ein Flickenteppich entsteht, der nur schwer wieder in ein einheitliches Muster zu bringen sein wird oder dessen unterschiedliche Standards sich „im Wettbewerb“ untereinander Konkurrenz machen müssen, um am Ende zu einer monopolistischen Einheit zusammenzuwachsen. Das mag bei Betamax, Video 2000 und VHS noch funktioniert haben (am Ende haben DVD, Bluray und Netflix dem unsäglichen Treiben ohnehin ein Ende gesetzt), sollte aber nicht die Grundlage sein, um Patienten und Ärzte rasch mit Versorgungsfortschritten zu beglücken. Diese Form von Verdrängungswettbewerb dauert nämlich nicht nur lange, sie produziert auch erkennbar Wettbewerbsverlierer – und das sind in diesem Fall nicht nur gescheiterte Industrie-Unternehmen, sondern auch Patienten, die vergeblich auf den besseren Standard des Konkurrenzunternehmens warten müssen.

Aber wie beim Video-Format steht auch bei der schleichenden Digitalisierung des Gesundheitswesens der disruptive Player schon bereit, um dem Gefrickel von Politik, Selbstverwaltung, Datenschutz und Gematik ein abruptes Ende zu bereiten: Wenn Apple jetzt ankündigt, sein nächstes Update von iPad und iPhone mit einer elektronischen Patientenakte auszustatten, dann wird deutlich, dass unsere Telematik-Planung zu verstauben beginnt, bevor sie sich überhaupt „am Markt“ bewährt hat (wir bleiben bei den Parallelen zum BER und zur Video-Historie).

„Aber wie beim Video-Format steht auch bei der schleichenden Digitalisierung des Gesundheitswesens der disruptive Player schon bereit, um dem Gefrickel von Politik, Selbstverwaltung, Datenschutz und Gematik ein abruptes Ende zu bereiten.“

Unsere Morbus-Crohn-Patientin jedenfalls dürfte sofort auf das Apple-Angebot zurückgreifen, einfach weil sie es satt hat, ihre selbst gesammelten Gesundheitsdaten unstrukturiert in Dutzenden von Ordnern durch die Gegend tragen zu müssen. Und der Datenschutz interessiert sie dabei auch nicht so sehr, denn sie hat wahrlich ganz andere Probleme. Ob daran vielleicht auch mal jemand von den Telematik-Bremsern gedacht hat?

Und ob wir in dieser Sache in der 19. Legislaturperiode zu substanziellen Fortschritten kommen? Beim BER macht sich inzwischen eine ganz andere Diskussion breit: In die Tonne treten und ganz von vorne anfangen. Diese Kapitulation sollten wir uns angesichts der 600 Millionen Gematik-Euro zu ersparen versuchen.


Der Beitrag ist ursprünglich als Editorial des gesundheitspolitischen Nachrichtenüberblicks iX-Highligts (Ausgabe 04/2018) erschienen.


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