In unserer Studie #SmartHealthSystems analysieren wir 17 Länder zum Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Fünf Länder davon haben wir bereist – und nehmen diese genauer unter die Lupe. Wir fragen nach politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren sowie Hindernissen für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie. Die vollständigen Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie stellen wir im November 2018 vor. Bis dahin veröffentlichen wir nach und nach interessante Erkenntnisse aus den untersuchten Ländern hier bei uns im Blog. Unser Blick nach Israel zeigt, wie eine kleine Nation schon seit zwei Jahrzehnten bei der Gesundheitsversorgung auf Big Data setzt – und jetzt mit einer riesigen Patientendatenbank zum Schlaraffenland für die internationale Forschung werden möchte.


Gerade einmal 8,4 Millionen Menschen leben in Israel. Das sind weniger als in Baden-Württemberg. Dennoch zieht das Land immer wieder die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich, und das nicht nur auf politischer Ebene: Aus dem Ausland blickt man neidisch auf die weit fortgeschrittene Digitalisierung in Israel. Nirgendwo sonst werden so viele Tech-Firmen pro Einwohner gegründet, weshalb Israel auch gerne Start-up-Nation genannt wird. Mitunter entsenden Unternehmen ganze Delegationen, um sich von den vielen Gründern und jungen Firmen dort inspirieren zu lassen; Konzernriesen wie Apple, Google, Microsoft und IBM betreiben sogar Forschungszentren.

Auch im Gesundheitssektor will Israel seinen Platz als Vorreiter in Sachen Digitalisierung konsequent ausbauen. Erst im März hatte die israelische Regierung einen nationalen Fünfjahresplan beschlossen, in den umgerechnet 232 Millionen Euro fließen sollen. Kernstück des Plans ist ein Projekt namens „Psifas“ („Mosaik“), das vorsieht, die medizinischen Daten nahezu aller israelischen Bürger in eine umfangreiche digitale Patientendatenbank zusammenzuführen. Von Krebs über Autoimmun- oder psychischen Erkrankungen bis hin zu seltenen Krankheiten: Der Pool aus den Daten von mehr als acht Millionen Bürgern soll anonymisiert aufbereitet und Wissenschaftlern, Unternehmen und medizinischen Start-ups zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden.

Datenfluss der nationalen Patientendatenbank in Israel
Abbildung 1: Zusammenführung medizinischer Daten aller israelischen Bürger in eine Patientendatenbank

Ein Projekt wie „Mosaik“ würde in Deutschland vermutlich unweigerlich auf massiven Widerstand stoßen. Für Israel hingegen ist das Thema „Big Data“ längst keine Zukunftsmusik mehr, und eine nationale Patientendatenbank ein nahezu logischer Schritt: Seit gut zwei Jahrzehnten werden Patientendaten aus Kliniken ohnehin bereits digital erfasst und ausgewertet. Was nun laut der israelischen Regierung folgen soll, ist eine Kombination aus drei Dingen: sehr große Datenbanken, künstliche Intelligenz (KI) und Konnektivität.

Big Data: Für Israelis längst Alltag

In Israel müssen alle dort lebenden Staatsbürger per Gesetz Mitglied in einer von insgesamt vier staatlichen Gesundheitspflegeorganisationen („Health Maintenance Organization“ – HMO) sein: Clalit, Maccabi, Leumit und Meuhedet. Diese versichern nicht nur ihre Mitglieder. Sie erbringen zudem selbst eine breite Palette medizinischer Dienstleistungen und verfügen landesweit über eine Vielzahl von Apotheken und Therapiezentren. Die Mitglieder zahlen einen gesetzlich festgelegten Beitrag und haben dafür Anspruch auf einen einheitlichen vom Gesundheitsministerium definierten Leistungskatalog.

Zu Clalit gehören auch acht Allgemein- und Fachkliniken. Mit einem Anteil von etwa 54 Prozent der Versicherten ist Clalit Health Services der Platzhirsch unter den HMOs und somit die größte Gesundheitsorganisation Israels. Und diese speichert sämtliche Daten ihrer Mitglieder – vom Blutdruck, über das Gewicht bis hin zu Daten über Krankheiten, Therapien und Medikamenten in den jeweiligen Patientenakten. Allein das Clalit Research Institute (CRI), einer von Clalit betriebenen Forschungseinrichtung, sitzt auf einem Datenschatz, der die Gesundheitsinformationen von mehr als vier Millionen Menschen umfasst.

Als integrierte Gesundheitsversorger und Versicherer verfügen alle vier HMOs jeweils über ein zentrales Datenlager, in dem klinische und administrative Daten aus den meisten medizinischen Vorgängen aller Mitglieder gesammelt werden. Die Zusammenführung dieser Datenbanken zur nationalen Patientendatenbank wird über das Gesundheitsministerium gesteuert, demzufolge laufen bereits elf Pilot-Forschungsprojekte dazu. Darüber hinaus betreiben die HMOs sowie ein Teil der staatlichen Krankenhäuser ihre eigenen Forschungsprogramme mit unterschiedlichem Fokus.

„Real People. Real Data. Real Change.“ So lautet das Mission Statement des CRI. Prägnant bringt auch dieser Claim auf den Punkt, wie die digitale Zukunft der Gesundheitsversorgung in Israel ausgerichtet ist. Mithilfe der Datenberge aus Diagnosen, Symptomen und Krankheitsverläufen sollen Vorhersagemodelle entwickelt werden, um Diagnostik, Therapie und Präventionsmaßnahmen besser und effizienter zu machen.

Zwar ist es das Ministerium, das den Aufbau der landesweiten Infrastruktur für die digitalen Patientenakten betreibt und koordiniert – das aber erst nach Drängen der HMOs. Bemerkenswert ist auch, dass sich das Ministerium ansonsten selten in die Belange der HMOs einmischt und sehr zurückhaltend ist, was regulatorische Vorgaben betrifft. Bewusst lässt die Regierung den HMOs viel Freiraum für Innovationen und Forschungsprojekte.

Und so hat jede HMO schon jetzt jeweils eigene Algorithmen im Einsatz, die Erkenntnisse aus den elektronischen Akten gewinnen: Bei Clalit beispielsweise werden Patienten mit einem Risiko für Nierenversagen frühzeitig identifiziert. Für gewöhnlich ist das für nicht erfahrene Experten eher schwierig, da die Patienten häufig nur leichte Veränderungen der Nierenwerte aufweisen, die schwer zu interpretieren sind. Mithilfe der Datenanalysen aber konnte das CRI ein Vorhersagemodell sowie spezielle Guidelines und Trainings für Klinikärzte entwickeln und diese in ihren Krankenhäusern implementieren. Maccabi nutzt ebenfalls einen Algorithmus, der auf Basis sämtlicher Patientendaten und anhand bestimmter Werte Menschen mit einem erhöhten Risiko für Darmkrebs erkennt. Über die algorithmische Erkennung erfolgt schließlich ein Vermerk in der persönlichen Gesundheitsakte, der die Ärzte auf die Hochrisikopatienten hinweist. Diese können den Betroffenen dann zu einer Vorsorgeuntersuchung in die Praxis einladen, um bestenfalls präventiv einzugreifen.

Interoperabilität über dezentrales Netzwerk

Auch das Gesundheitsministerium betreibt Projekte, die den Einsatz von datenbasierten Entscheidungsunterstützungssystemen vorantreiben soll. Darüber hinaus ist das Ministerium für die Daten-Interoperabilität zuständig. Damit die zahlreichen Leistungserbringer und medizinische Einrichtungen stets Zugriff auf die elektronischen Patientendaten haben, hat das Ministerium ein spezielles Gesundheitsinformationsaustauschsystem („Health Information Exchange“ – HIE) namens EITAN entwickelt, das derzeit in verschiedenen Kliniken getestet wird. EITAN ist eine Weiterentwicklung von OFEK, das ursprünglich von Clalit konzipiert und vom Ministerium landesweit skaliert wurde.

Abbildung 2: EITAN - Plattform für den Austausch von Gesundheitsinformationen
Abbildung 2: EITAN – Plattform für den Austausch medizinischer Informationen

Beim geplanten EITAN handelt es sich um einen Informationsaustausch, der wichtige medizinische Informationen aus der Krankenakte des Patienten aus Krankenhäusern und HMOs zusammenführt. Das geschieht aber nicht in einer zentralen Datenbank. Vielmehr werden die Daten dezentral zur Verfügung gestellt und vom Ministerium verwaltet. Kommt ein Patient in die Klinik, erhält nur medizinisches Personal, das ihn betreut, Zugriff auf seine Krankendaten. Verlässt der Patient das Krankenhaus, erlischt der Zugriff nach einer gewissen Zeit, in der die Dokumentation abgeschlossen werden muss. Die HMO, bei der der Patient Mitglied ist, erhält anschließend einen Bericht über den Besuch in der Notaufnahme oder den Aufenthalt im Krankenhaus.

Besonders sensible Gesundheitsinformationen, wie etwa über Besuche in psychiatrischen Einrichtungen, Samenspenden oder Schwangerschaftsabbrüche, werden nicht über das HIE übermittelt. Jeder Patient erhält zudem die Möglichkeit, sich über einen Antrag bei seiner HMO aus dem Netzwerk auszuschließen. Damit ist der Informationsaustausch beispielsweise von der Klinik an die Reha-Einrichtung unterbunden. Lediglich die HMO erhält den Anschlussbericht über den Klinikaufenthalt – einen Datensatz mehr, aus dem ein Algorithmus Erkenntnisse gewinnen kann.

Größte medizinische Datensammlung der Welt

Der Plan der Regierung, eine nationale Patientendatenbank einzurichten, stößt auch jenseits der Landesgrenzen auf allergrößtes Interesse. Schließlich bietet die umfangreichste medizinische Datensammlung der Welt mit Informationen über Millionen Menschen enormes Potential für Big-Data-Analysen. Die Regierung rechnet über die Lizenzierung anonymisierter Daten mit Einnahmen in Millionenhöhe.

Und der Datenschutz? Zwar gibt es vereinzelt Bedenken hinsichtlich Datensicherheit und möglichem Missbrauch. Doch die Regierung beteuert, man werde klare Schutzvorkehrungen treffen, um Privatsphäre, Informationssicherheit und den eingeschränkten Zugang zu gewährleisten. Zudem soll jeder Bürger der Weiterverwertung seiner Daten widersprechen können. Die Israelis aber haben generell wenig Bedenken, was den Umgang mit privaten Daten angeht. Wie viele also tatsächlich widersprechen werden, ist offen.

Hinweis: Dieser Beitrag ist in Zusammenarbeit mit Dr. Cinthia Briseño entstanden. Frau Briseño unterstützt die Vorort-Recherchen zur Studie #SmartHealthSystems mit journalistischen Blog-Beiträgen zu den verschiedenen Ländern.
Die Studie führt die empirica – Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durch.

 


Verfolgen Sie die Eindrücke unserer Länderreisen zur Studie bis Ende 2018

Die vollständigen Ergebnisse unserer internationalen Vergleichsstudie stellen wir im November 2018 vor. Bis dahin veröffentlichen wir nach und nach interessante Erkenntnisse und gute Beispiele aus den untersuchten Ländern hier bei uns im Blog.

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