Der digitale Patient“ will sich in einer Debattenreihe den Möglichkeiten und Grenzen von Big Data im Gesundheitswesen konstruktiv nähern. Unser Blog fungiert dabei als Plattform, wir lassen hier Experten aus den verschieden Bereichen zu Wort kommen. Jan-Keno Janssen diskutierte im vorherigen Beitrag über die Notwendigkeit, mehr Transparenz über den Ursprung des Rohmaterials für Big Data im Gesundheitswesen herzustellen. In diesem Beitrag entwirft Artur Olesch ein mögliches Zukunftsszenario in groben Linien darüber, welches Potenzial Big Data für einen Paradigmenwechsel von der Interventionsmedizin hin zur Präventivmedizin haben könnte.


Es ist der Beginn einer technologischen Revolution im Bereich des Gesundheitswesens: Die Verbreitung von mobilen Gesundheits-Apps, Sensoren, die Lebensstil und Vitalparameter überwachen, sowie die Popularisierung von telemedizinischen Geräten machen es möglich, die elektronischen Patientenakten mit Daten zu füllen. In den scheinbar chaotischen Digitalsammlungen sind Zusammenhänge und Kenntnisse verborgen, welche zur besseren Diagnostizierung, zu klinischen Untersuchungen, zur Vorbeugung und Individualisierung der Patientenbetreuung genutzt werden können. Big Data wird einer der größten Meilensteine in der Medizin sein.

Jeden Tag werden 2,5 Mrd. Gigabyte an Daten erzeugt. Ein Teil dieser Daten sagt viel über die Gesundheit eines Menschen aus, und zwar über den Lebensstil, die Art und Weise der jeweiligen Freizeit, eventuell bestehende Krankheiten, soziale Charakteristika, aber auch wohlmöglich über den psychischen Zustand. Die Entwicklung von elektronischen Patientenakten kann es uns ermöglichen, solche Daten gegebenenfalls an einem Ort zu speichern; und zwar nicht nur medizinische Daten, sondern auch Informationen, die z.B. von tragbaren Sensoren gesammelt werden. Wir können damit über große Sammlungen von Informationen verfügen, was aber nicht unbedingt immer damit einhergehen muss, dass wir darüber auch nutzbares Wissen haben. Erst die Entwicklung einer künstlichen Intelligenz und von Algorithmen, welche die älteren und aktuellen Daten in Patientenakten fortlaufend analysieren, würde einen Durchbruch bei der optimalen Ausnutzung des Potenzials von Big Data darstellen.

Big Data bereitet den Weg für präventive Behandlungen

Das würde ferner den langsamen Übergang von der Interventionsmedizin zur Präventivmedizin bedeuten – hin zur stärkeren Individualisierung der medizinischen Behandlung auf Grundlage von bewährten Praktiken (evidence based medicine) sowie zu einer stärkeren Personalisierung der jeweiligen Medikation (individuell angepasste Verschreibung von Medikamenten). Der Katalysator für Big Data im Bereich des Gesundheitswesens wird das sogenannte Internet der Dinge (internet of things) sein. Dadurch werden bei medizinischen Analysen bisher unberücksichtigte Informationen mit einbezogen, und zwar Daten über die jeweilige Ernährungsweise (durch den intelligenten Kühlschrank übermittelte Daten), das individuelle Stressniveau (in Smart-Kleidung oder Computer eingebaute Sensoren) und Lebensgewohnheiten (Sensoren im intelligenten Haus). Mit Sensoren gespickte Einkaufskörbe, Spiegel im Badezimmer oder Fahrzeuge können zu Wächtern unserer Gesundheit werden. In Verbindung mit genetischen Informationen, die früher oder später Grundlage jeder Patientenakte sein werden, entsteht ein ganzheitliches Bild des Menschen, das Ausgangspunkt für die Gesundheitsgestaltung sein wird. In der Welt von künstlicher Intelligenz und Big Data wird sich die Rolle des Arztes grundlegend ändern: Statt zu behandeln, wird der Arzt die Rolle eines Gesundheitsarchitekten ausüben.

Das Potenzial von Big Data kündigt sich durch den Supercomputer Watson von IBM an. Watson ist ohne territoriale Begrenzungen imstande, genaue Diagnosen zu stellen und eine Behandlung auf Grundlage der Best Practices der medizinischer Spitzenzentren in der ganzen Welt vorzuschlagen, indem er Terabytes an Informationen in der Daten-Cloud durchsucht und auf medizinisches Wissen, klinische Fälle sowie Fachliteratur zurückgreift. Kein Mensch wäre jemals imstande, solch eine Menge an Informationen zu verarbeiten, unabhängig von der ihm zur Verfügung stehenden Zeit. Und genau in der klinischen Praxis fehlt es in den meisten Fällen an Zeit. Es ist erwähnenswert, dass dies nur einen Bruchteil der potenziellen Möglichkeiten darstellt und die Effekte schon heutzutage vielversprechender sind. In erster Linie werden davon die chronisch Kranken profitieren: Statt Kontrollbesuchen beim Arzt werden medizinische Datenzentren die von den Sensoren kommenden Daten Tag und Nacht überwachen können und bei Normabweichungen warnen. Werden dann von diesen Systemen bedenkliche Entwicklungen erkannt, können Krankenschwester oder Arzt rechtzeitig intervenieren. Ein solches Modell würde nicht nur einen vollständigen Schutz und eine individuelle Betreuung im Rund-um-die-Uhr-Modell gewährleisten, sondern würde auch zu geringeren Behandlungskosten führen. Gerade sinkende Kosten sind ein Argument für den schnellen Einsatz von Big Data. Man schätzt, dass bis zu 80 Prozent der Kosten des Gesundheitswesens durch chronische Krankheiten entstehen.

Der Grad der Digitalisierung des Gesundheitswesens lässt noch viel zu wünschen übrig

Um solch ein ideales Modell des Gesundheitswesens einzuführen, sind immer noch einige Hindernisse zu überwinden. Erstens brauchen wir eine bessere Interoperabilität von Lösungen und Systemen, welche Daten im Bereich des Gesundheitswesens sammeln und nutzen. Der derzeitige Mangel an entsprechenden Standards trägt dazu bei, dass Informationen aus verschiedenen Quellen in unterschiedlichen Formaten gespeichert werden, wodurch eine umfassende Analyse unmöglich gemacht wird. Zweitens gibt es noch zu viele Datenquellen, die als unzugängliche, gesonderte Datenspeicher existieren. Ein Beispiel dafür wären Gesundheits-Apps, die zwar wertvolle Informationen sammeln, welche aber dann nicht in eine elektronische Patientenakte überspielt werden können. Der Grad der Digitalisierung des Gesundheitswesens und der freie Datenverkehr zwischen allen Marktteilnehmern lassen noch viel zu wünschen übrig.


Im nächsten Beitrag wird Dr. Franz-Joseph Bartmann darüber bloggen, wie Big Data bereits heute mit konkreten Versorgungszielen im Gesundheitssystem verbunden werden könnte.

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