Die Diskussion um die Einführung von einrichtungsübergreifenden elektronischen Patientenakten in Deutschland ist in vollem Gange. Mit einer Expertise von Prof. Peter Haas will die Bertelsmann Stiftung Impulse für diese Debatte geben. Von besonderer Bedeutung ist dabei die konzeptionelle Grundidee der eEPA als Basis für umfassende Behandlungsmanagement-Plattformen. Diese sind zum einen gemeinsames Instrument von Leistungserbringern und Patienten, zum anderen werden sie zur zentralen instrumentellen Grundlage – zum „Hub“ – für digitale Prozessinnovationen im Gesundheitswesen. Dieses Zielbild sollte bei der Einführung von Anfang an verfolgt werden.


Wenn die Sprache auf das Thema Patientenakten kommt, hat fast jeder eine Geschichte parat: von den Laborwerten, die er nachträglich selbst vom Fach- zum Hausarzt bringen musste, von den verschollenen MRT-Bildern oder dem unverständlich Arztbrief, der ihm bei der Entlassung in die Hand gedrückt wurde. Und dass das deutsche Gesundheitssystem seine Defizite vor allem an den Versorgungsübergängen hat, dass das System fragmentiert ist und Informationen nicht so fließen, wie sie sollten, ist auch jenseits individueller Erfahrungen breit anerkannt. Wie wäre es also, wenn jeder Patient (der will) eine elektronische Akte hätte, in der jederzeit alle für die Versorgung relevanten Informationen abrufbar wären – eine Akte, auf die alle autorisierten Behandler und der Patient selbst zugreifen können? Wie wäre es zudem, wenn diese Akte Kern des kompletten Behandlungsmanagements eines Patienten wäre und ihn zum aktiven Teil des Behandlungsteams macht?

Spätestens seit dem E-Health-Gesetz ist die Diskussion um die flächendeckend Einführung von einrichtungsübergreifenden elektronischen Patientenakten in Deutschland (wieder) in vollem Gange. In verschiedensten Projekten – etwa im Kontext des Innovationsfonds oder durch die Aktivitäten großer Krankenkassen – entstehen derzeit übergreifende Aktensysteme, die Akteure haben teils unterschiedliche Ziele und verfolgen unterschiedliche Strategien. Vor diesem Hintergrund haben wir im vergangenen Jahr Prof. Peter Haas, Medizininformatiker an der FH Dortmund und langjähriger Sprecher des gematik-Beirats, gebeten, eine Expertise zum Thema zu verfassen. Wir haben haben ihn gefragt, was passieren muss, damit „die elektronische Patientenakte“ in Deutschland Verbreitung findet und wie es gelingen kann, dass die Akte zum Werkzeug für mehr Patientensouveränität wird.

Entstanden ist eine umfassende Abhandlung, die auf 288 Seiten die verschiedensten Aspekte des Themas beleuchtet – von funktionalen Anforderungen über Fragen der physischen Verteilung von Daten, über die Inhaltsstrategie, Fragen des Datenschutzes sowie der Ethik und der informationellen Selbstbestimmung bis hin zu konkreten Empfehlungen in Bezug auf das Vorgehen bei der Implementierung und die Governance-Struktur. Das Ergebnis – zusammengefasst auf hohem Aggregationsniveau: Für eine flächendeckende Einführung von Patientenakten mit hohem gesellschaftlichen Nutzen braucht es eine langfristige Strategie, eine effektive Governance und – bei einer wettbewerblichen Entwicklung von Aktensystemen – schnell einen verbindlichen und für Patienten verlässlichen Rahmen.

Grundidee: Elektronische Patientenakten als instrumentelle Grundlage für digitale Transformation

Von besonderer Bedeutung für uns ist dabei die konzeptionelle Grundidee, an der wir gemeinsam mit Peter Haas auch künftig weiter arbeiten werden. Dabei sind einrichtungsübergreifende Akten nicht „nur“ ein Instrument für die Kooperation von Leistungserbringern, sie sind der technologische Hebel für aktive Zusammenarbeit von Patienten und Behandlern und können nicht zuletzt das Selbstmanagement effektiv unterstützen. Überdies sind sie nicht „nur“ ein interaktiver Speicher- und Verwaltungsort für Daten, sie sind Grundlage für das komplette Behandlungsmanagement eines Patienten. In diesem Szenario – und das ist der übergeordnete Gedanke – sind elektronische Patientenakten zentrale instrumentelle Grundlage für die digitale Transformation (der Kommunikation) im Gesundheitswesen, eine Art „Hub“ für digitale Prozessinnovationen.

Auf diesen Behandlungsmanagement-Plattformen können künftig – ob als originäres Angebot eines Aktensystems oder über intelligente Schnittstellen – verschiedenste digitale Prozesse abgebildet werden. Um nur einige Beispiele zu nennen – die Akte wäre Plattform für

  • Tele-Konsile zwischen Ärzten,
  • das Einspeisen und die Überwachung von Daten aus dem Telemonitoring,
  • die digitale Kommunikation zwischen Patienten und Leistungserbringern, z. B. in Form von Videosprechstunden,
  • die Einholung von Zweitmeinungen durch den Patienten,
  • das Management von selbst gemessenen Daten oder
  • die Vermittlung von evidenzbasierten Gesundheitsinformationen.

Insbesondere an Letzterem wird deutlich, warum die elektronische Patientenakte so geeignet als Plattform ist: Hier, wo die Informationen zum Gesundheitszustand eines Patienten zusammenfließen und der weitere Behandlungsprozess geplant wird, entsteht der Informationsbedarf. Hier könnten – ohne „Umweg“ einer Suchmaschinen-Recherche durch den Patienten – evidenzbasierte Informationsangebote kontextsensitiv abgerufen werden. Als Beispiel: In der Akte liegt ein Befund und der Arzt gibt darauf basierend eine Behandlungsempfehlung. Im Idealfall kann sich der Patienten den Befund direkt laiensprachlich übersetzen lassen, sich eine erklärende Gesundheitsinformation oder eine Entscheidungshilfe anzeigen lassen. Diese wiederum bespricht er dann mit seinem Arzt; zum Beispiel in einer Videosprechstunde.

Elektronische Patientenakten: Beispielhafte Ansicht einer Akte als umfassende Behandlungsmanagement-Plattform
Beispielhafte Ansicht einer Akte als umfassende Behandlungsmanagement-Plattform (Bildnachweis Röntgenbild: Hellerhoff, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz by-sa-3.0-de)

Klar ist, dass in diesem Szenario der Zugang für Patienten zur Akte mehr sein muss als ein „Patientenfach“, aus dem sie Dokumente abrufen und eigene einstellen können. Klar ist auch, dass die Implementierung solcher Plattformen bei weitem nicht trivial ist, dass viele Fragen zu klären und Entscheidungen zu treffen sind: zu den Inhalten, zum Datenschutz, zum Zugriffsmanagement, zu Interoperabilitätsstandards, zu zulässigen Betreibermodellen und nicht zuletzt zur Finanzierung. Auch zu besprechen ist etwa, wie diejenigen von den Vorteilen einrichtungsübergreifender Akten profitieren können, die die Inhalte nicht selbst führen bzw. moderieren können oder wollen. Das alles wird nicht von heute auf morgen gehen, die Etablierung kann und sollte schrittweise erfolgen.

Wir denken aber, dass es sich lohnt und von erfolgskritischer Bedeutung ist, das Zielbild von umfassenden Behandlungsmanagement-Plattformen von Anfang an zu verfolgen. Wir denken, dass es jetzt nötig ist, darüber zu diskutieren, welche Schritte bis dahin zu gehen, welche Rahmenbedingungen zu schaffen sind, zum Beispiel auch – und der Diskurs hat nach Veröffentlichung der Expertise bereits begonnen –, welches Steuerungsmodell für den Implementierungsprozess geeignet ist. In diesem Sinne verstehen wir die Expertise von Peter Haas als Impuls für die Diskussion und freuen uns auf den weiteren Austausch dazu; auch an dieser Stelle.


Dieser Blogbeitrag ist der Auftakt für eine Reihe von Beiträgen rund um das Thema Elektronische Patientenakten. Dabei werden wir in unregelmäßigen Abständen einzelne in der Expertise von Peter Haas analysierte Aspekte aufgreifen und auch andere Akteure zu Wort kommen lassen.

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