Die zunehmende Zahl an Digital-Health-Anwendungen für Bürger wirft viele Fragen auf: Wie lassen sich Anwendungen mit hohem Nutzenpotenzial identifizieren? Wie gelangen diese Anwendungen rasch in den Versorgungsalltag, um dort Nutzen zu stiften? In unserem Projekt „Der digitale Patient“ befassen wir uns im Rahmen einer mehrstufigen Analyse aktuell mit genau diesem Thema. Doch bereits vor der Nutzenbewertung und Verbreitung müssen die Weichen für solche Anwendungen richtig gestellt werden. Warum Nutzerorientierung dabei eine wesentliche Rolle spielt, leitet Gesundheitswissenschaftler und „30 unter 40“-Mitglied Dr. Christoph Dockweiler in diesem Gastbeitrag her.


Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in der medizinischen und pflegerischen Versorgung erfährt national als auch international eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit. In Europa hat hierzu auch die strategische Förderung der Europäischen Union (EU) im Rahmen des „eHealth Action Plan 2012-2020“ beigetragen. Das Rahmenprogramm verfolgt das Ziel einer grundlegenden Verbesserung der Gesundheit der Bürger durch die digitale Bereitstellung lebenswichtiger Informationen über Ländergrenzen hinweg. Ebenso soll zukünftig durch die Einbeziehung von digitalen Technologien in die medizinische und pflegerische Versorgung die Qualität und vor allem die Zugänglichkeit verbessert werden.

Als Kernelement der bereits begonnen digitalen Transformation im Gesundheitswesen betrachtet die EU die Schaffung (be-)nutzerfreundlicher und umfassend akzeptierter elektronischer Gesundheitsdienste durch die Einbeziehung von Professionals und Patienten innerhalb von Strategien, Entwicklungsprozessen, der Gestaltung von Technik und Forschung sowie der Umsetzung in der Praxis.

Eine sich hieraus ergebende Herausforderung tangiert in zentraler Weise die praktische Diffusion der neuen Versorgungsmaßnahmen und -strukturen sowie die dabei inhärenten Fragen der Nutzerorientierung, der Akzeptanz sowie der Partizipation. Diese sind, unter der Annahme einer evidenten Steigerung der Qualität und Kosten-Effektivität durch den Einsatz elektronischer Gesundheitsdienste, durchaus grundsätzlicher Natur. Denn werden Prozesse der Entwicklung und Implementierung nicht unter diesen Gesichtspunkten begleitet und findet darauf aufbauend keine Ableitung von akzeptanzfördernden Maßnahmen statt, verbleibt das Potenzial der Technologien ungenutzt.

Soziale und kulturelle Interoperabilität ist ebenso notwendig wie das Zusammenspiel der Technologien

Neben der klaren Positionierung der EU zu einer stärkeren Berücksichtigung der Nutzerperspektiven lässt ebenso die bisher noch stockende Implementierung von E-Health-Anwendungen in der Versorgung – im Vergleich zum zweiten Gesundheitsmarkt – den Schluss zu, dass Forschung und Entwicklung nicht (maßgeblich) „top down“ erfolgen können. Denn Fragen einer bedarfs- und bedürfnisgerechten (oder gar diversitätssensiblen) Einführung und Nutzung von Versorgungstechnologien lassen sich nicht allein durch die Prämisse des „technisch Möglichen“ lösen, sondern müssen sich viel mehr am „technisch Notwendigen“ orientieren. Die Diskussion „technischer“ Aspekte (z. B. technologische Interoperabilität) ist zwar ein notwendiger Bestandteil der gesellschaftlichen Diffusion von Technologien, und natürlich muss auch eine bedarfsadäquate (und standardisierte) Technikinfrastruktur geschaffen werden. Doch erscheint diese Engführung bisher mehr als Diskussion „über“ als „mit“ den Nutzern. Eine Diskussion, die eben auch dem Gedanken der „sozialen und kulturellen Interoperabilität“ folgen muss.

In Public Health und Medizin ist das Paradigma der Patientenorientierung (in Anlehnung an den Terminus der Nutzerorientierung) als Leitbild der (Fort-)Entwicklung von Gesundheitsförderung, Prävention und Versorgung prominent verwurzelt. Geprägt wurde der Nutzerbegriff im deutschen Gesundheitswesen durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, der 2001 erstmals von Nutzern sprach, die in unterschiedlichen Rollen (z. B. als versierter, mündiger Kunde) dem Gesundheitssystem gegenüberstehen und es entlang ihrer Bedürfnisse kompetent „nutzen“. Ein Verständnis, welches keineswegs frei von inkongruenten Erwartungshaltungen ist: Die Person tritt als interessierter, informierter Bürger auf, als kompetenter Koproduzent seiner eigenen Gesundheit, als versierter Kunde, als Mitglied sozialer Gemeinschaften, die innerhalb von Selbsthilfe kooperieren und demgegenüber als hilfsbedürftiger, leidender Patient. Dabei zeigt sich Nutzerorientierung als Leitgedanke, welcher die subjektiven Bedarfe und Bedürfnisse, Erfahrungen, Haltungen und Bewertungen der Nutzer von Versorgung in den Mittelpunkt des handlungsleitenden Forschungsinteresses stellt, um sie als zentrale Ziel- und Korrekturdimension in das lernende System Gesundheitswesen einzuspeisen.

Eine hierzu sehr ähnliche, zentrale und bis heute persistente Erkenntnis sozialwissenschaftlicher Technikforschung ist das Verständnis von technologischer Entwicklung als sozialer Prozess. Die beiden relevanten Forschungslinien der Technikbedarfs- und der Technikinnovationsforschung fragen einerseits nach dem Informationsbedarf von Nutzern (also der Ausprägung von Wissensständen und technikbezogenen Kompetenzen und daraus resultierenden Bedürfnissen) und den individuellen Vorstellungen der zukünftigen Technikintegration. Insbesondere die Technikinnovationsforschung befasst sich dabei mit den Leitbildern für Technikentwicklung, die nutzerorientierten Technikanforderungen gerecht werden, und mit den notwendigen Kooperationsbeziehungen zwischen spezialisierten Technikanbietern und Nutzern, um einen gemeinsamen Wertschöpfungsprozess zu organisieren.

Ebenso finden sich relevante Beispiele zur Nutzerorientierung in der Informatik. Die Requirements-Forschung integriert dabei jene Aktivitäten, bei denen es um das Erfassen, Dokumentieren und Verwalten von Anforderungen der verschiedenen Interessengruppen geht. Agile Vorgehensweisen in der Informatik bauen auf der intensiven Kommunikation und engen Feedbackzyklen zwischen allen am Entwicklungsprozess Beteiligten auf.

Wer Digital-Health-Anwendungen entwickelt, muss Wissen und Kompetenzen der Nutzer erfassen

Wenn also die Rede von Nutzerorientierung (respektive Subjektivität) als Leitgedanke (sozio-)technischer Innovationen innerhalb gesundheitsbezogener Kontexte ist, bedeutet dies die Analyseebene nutzerseitiger Einflussfaktoren auf die Entwicklung, Gestaltung und Implementierung von Digital Health. Dazu gehört nicht nur die Explikation der Bedarfe, Bedürfnisse, Einstellung und Wahrnehmungen von technischen Innovationen, sondern auch die Analyse des Umgangs der Nutzer mit den Technologien. Hierzu gehört etwa die Erfassung von individuellem Wissen und Kompetenzen, die für eine adäquate Nutzung erforderlich sind. Auf dieser Basis kann die Etablierung von Empowermentprozessen auf der Mikroebene (z. B. in Form von Schulung, Information, Beteiligung), der Mesoebene (z. B. Schulungen, institutionelle Beteiligungsformen) und der Makroebene (z. B. Kampagnen mit dem Ziel der Aufklärung, Wissenssteigerung und Problemsensibilisierung) vorangetrieben werden.

Nutzerorientierung bedeutet damit auch den Blick von den unmittelbaren Nutzern auf die Rahmenbedingungen der Nutzung zu lenken und die vorliegenden Strukturen und Prozesse hinsichtlich ihrer nutzenerleichternden Eigenschaften zu analysieren. Dies können Unterstützungs- und Bildungsstrukturen sein, die Fortentwicklung datenschutzrechtlicher Rahmungen aus der Perspektive des mündigen Bürgers im Sinne der informationellen Selbstbestimmung, berufsrechtliche Bedingungen, die das rechtssichere Handeln der Professionals unterstützen, aber auch die fortwährende ethische Reflexion der Digitalisierung unserer Gesundheit und unserer Lebenswelten, in denen Gesundheit (re-)produziert wird.

Dabei verlangen Interventionsfelder wie Digital Health einen konsequenten inter- und transdisziplinären Diskurs zwischen Wissenschaft, Politik, Praxis und Wirtschaft, der möglichst frühzeitig in der Planung und Entwicklung von Innovationen ansetzt. Dazu gehören innovative Formen der Kooperation zwischen Praxis und Wissenschaft, die Koproduktion von Wissen sowie die Partizipation relevanter Nutzergruppen in Forschung und Entwicklung.

Allerdings betrachten erst wenige Beiträge das komplexe Geflecht unterschiedlicher Bedingungen der Nutzerorientierung im Bereich von Digital Health im Sinne sozialwissenschaftlicher Ansätze der Akzeptanzforschung – und das obwohl die Bereitschaft zur Nutzung einer technologischen Versorgungsinnovation explizit mit der Frage verknüpft ist, wie diese aus der Perspektive der Nutzer vor dem Hintergrund der vorliegenden Bedarfe, Bedürfnisse und Rahmenbedingungen wahrgenommen wird.


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